Jens Gnisa: Das Ende der Gerechtigkeit
Ein Richter schlägt Alarm
Berufsrecht - Die Zukunft der Justiz
Herder Verlag, 2. Auflage 2017, 288 Seiten, gebunden, EUR 24,00, ISBN: 978-3-451-37729-7
Der Autor, Jahrgang 1963, Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, hat unter Mitarbeit der Journalistin Petra Torbrietz das sich aus dem Titel und Untertitel der Rezension ergebende Buch veröffentlicht.
Worum geht es?
Herr Gnisa warnt vor dem Niedergang des Rechtsstaates. Er ist der Auffassung, dass die Bevölkerung mehr und mehr ihr Vertrauen in den Rechtsstaat verliert. Er weist darauf im Einleitungskapitel hin.
Dann wird in Kapitel 1 ein Potpourri an Themen angerührt unter dem Titel „Es läuft etwas schief“. Hier werden schlaglichtartig Themen angerissen wie: rechtsfreie Räume/Risiken durch Flüchtlinge/Terror/Scharia und Co./Clans und die Reichsbürger/neue Kriminalität/Populismus, das Recht wird instrumentalisiert und Gerechtigkeit – gleiches Recht für alle.
In Kapitel 2 wird eine „Analyse des Misstrauens“ vorgenommen. Hier werden Themen diskutiert wie: Wie denken eigentlich Juristen?, Was will die Öffentlichkeit?, Richter im Rampenlicht, Justizirrtümer, die Stimmung in der Justiz, das Ausufern des Rechtes, das Strafverfahren als Hindernislauf, Geld als Druckmittel, Rationalisierung in der Justiz (unter anderem die Auflösung von Gerichten und Sparzwänge) sowie staatliche Verstöße.
Im zweiten Drittel des 2. Kapitels gibt es dann einen „Faktencheck Strafjustiz“, in dem sich der Autor mit elf „Vorwürfen“ (von „Die Straftaten nehmen zu und Ihr macht nichts“ bis hin zu „Die Kleinen fängt man und die Großen lässt man laufen“) auseinandersetzt. Im Schlusskapitel werden Vorschläge unterbreitet, was für die Rettung des Rechtsstaates die Politik, die Justiz und wir alle ändern müssen (die Vorschläge werden am Ende des Artikels vorgestellt).
Das Buch ist in bemerkenswert einfacher Sprache geschrieben. Es enthält eine Unzahl an interessanten Gedanken und Informationen. Allerdings hat man den Eindruck, dass der Autor sich nicht entscheiden konnte, was er denn eigentlich schreiben will. Es ist ein wenig atemlos geraten, was auch mit einem Veröffentlichungsdruck vor der Wahl (s. u.) zusammenhängen könnte. Das Buch suggeriert Endzeitstimmung und beruft sich immer wieder auf die Bevölkerung, ohne dass klar wird, woher genau die Analysegegenstände des Misstrauens bzw. die elf Vorwürfe im Faktencheck resultieren sollen. Es wird auch im Buch nirgends erklärt, wie der Autor auf diese Misstrauensgegenstände kommt. Eine organische Struktur lässt dieses Buch leider vermissen. Es bleibt einem nur, aus diesem Sammelsurium immer wieder gute Gedanken herauszudestillieren.
Schade, dass der Autor in seiner Funktion als Direktor des Amtsgerichts und Vorsitzender des Deutschen Richterbundes diese wohl eher Streitschrift nicht für eine ruhigere und grundlegendere Auseinandersetzung mit derzeitigen Mängeln des Rechtsstaates genutzt hat (siehe z. B. Joachim Wagner, Ende der Wahrheitssuche: Justiz zwischen Macht und Ohnmacht, Rezension im Berliner Anwaltsblatt, Heft 4/2017, 142 f). So gibt es auch in diesem Buch keinerlei Literaturhinweise oder Anmerkungen.
Gefallen hat dem Rezensenten, dass der Autor sich eindeutig gegen ein Ausufern des Rechts (insbesondere im Strafrecht) ausgesprochen hat. Auch die Hinweise auf eine Reform, damit die Justiz wirklich unabhängig wird, und das Zuhörenkönnen der Richter den Parteien gegenüber ist begrüßenswert. Allerdings ist die unhinterfragte Richtersicht immer wieder deutlich. So wird bei Gedanken zum Strafprozess immer wieder der Konfliktverteidiger als Popanzargument angeführt, um die Rechte zu beschneiden, ohne dass dies genauer aufgedröselt würde.
Hinsichtlich des Begriffes Gerechtigkeit und der richterlichen Amtsausübung behauptet der Autor, dass Umfragen belegen, dass die Gerechtigkeit für Richter kein großes Thema sei – weil sie damit „im Reinen“ seien. Doch es ist hier nicht genug Platz, um sich mit all dem auseinanderzusetzen, daher im Folgenden die Dinge, die der Autor zur Änderung vorschlägt.
Was die Politik ändern muss
- Die Judikative muss wirklich dritte Staatsgewalt werden (unabhängig von Justizministerien und dergleichen)
- Die Politik muss sich selbst an das Recht halten (u. a. Abschaffung der Nichtanwendungserlasse im Steuerrecht, kein Ankauf von Steuer-CDs)
- Ausländerrecht – Anerkennen oder Abschieben
- Zuwanderung: Klare Ziele und bessere Kontrolle
- Falsch verstandene Toleranz aufgeben (auch Besitz von Drogen in geringer Menge und Diebstahl geringwertiger Sachen müssen verfolgt werden)
- Das Recht muss entfrachtet werden (Abschaffung des Paragrafen zum Schwarzfahren, Bußgelder eindämmen)
- Einfachere Verfahren, kürzere Prozesse (hier bleibt er sehr stark im Ungefähren, kann aber immerhin auf „zu vielen“ Beweisanträgen der Verteidiger rumhacken)
- Für ein bürgerfreundliches Zivilrecht (hier erwähnt er lobend die Einrichtung von Kammern speziell für Handelssachen, Beschleunigung evtl. durch Beginn mit der Berufungsinstanz, Einführung von Musterfeststellungsklagen)
- Legal Tech (Einführung auch in der Justiz)
- Der Brexit als Chance (Verhältnis zwischen den Gerichten zur Vermeidung widerstreitender Rechtsprechung ordnen)
- Schluss mit dem Länder-Eigensinn und Partikularismus
- Gleiches Recht überall (Ausgleich der unterschiedlichen ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bundesländer und dementsprechend der Ausstattung in der Justiz)
- Gleiche Chancen für alle in der Justiz (17 existierende verschiedene Besoldungssysteme: mehr Gleichlauf, auch in der Beförderungspraxis)
- Mehr professionelle Modernisierung (einheitliche Digitalisierung der Justiz)
- Eine Qualitätsoffensive für die Justiz (mehr Spezialisierung in der Justiz)
- Mehr Gerichte in die Fläche
- Lebendige Rechtsprechung statt Papier (Verhandlungen statt schriftliche Verfahren)
- Anpassung an die reale Welt (Gesetze und die technische Entwicklung)
- Mehr Forschung zur Rechtsprechung (der Strafrichter sollte wissen, wann es zu einer Wiederaufnahme kommt, in Zivilsachen sollte eruiert werden, warum den Gerichten die Kunden weglaufen, hat das wirklich mit der Schiedsgerichtsbarkeit zu tun usw.)
- Die Justiz braucht mehr Geld (hier erwähnt er die sogenannte „Deidesheimer Erklärung“ vom 22. Juni 2017)
- Der Staatsdienst muss für Juristen wieder attraktiv werden (laut Richterbund fehlen 2.000 Staatsanwälte und Richter bundesweit)
Was die Justiz selbst ändern muss
- Laienverständlich argumentieren
- Raus aus der Anonymität
- Verfahren beschleunigen
- Informationsaustausch zwischen Gerichten
Was wir alle ändern müssen
- Das Recht wertschätzen
- Die Grenzen des Rechts akzeptieren
- Vertrauen in den Rechtsstaat haben
Die Veröffentlichung des Buches geschah mit großem Pressepomp (siehe z. B. Legal Tribune vom 16.8.2017 und das Deutsche Anwaltsblatt 2017, Seite 858 bis 860). Erwähnenswert dürfte noch ein Gastbeitrag von der ehemaligen Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger zur Lage der Justiz in Deutschland sein, der am 21.9.2017 wiederum bei Legal Tribune erschien.
Alles in allem ein Sammelsurium an Ideen, Gedanken und Vorschlägen, die in Teilbereichen zur Diskussion einladen, aber leider nicht die richtige Form gefunden haben, sondern insgesamt einen sehr gemischten Eindruck hinterlassen.
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