Zur (Un-)Abhängigkeit der Justiz in Europa
17. Berliner Konferenz der Europäischen Rechtsanwaltschaften am 3. November 2017
Am Freitag, 3. November 2017, trafen sich ca. 40 europäische und südkoreanische Kolleginnen und Kollegen zur Berliner Konferenz der Europäischen Rechtsanwaltschaften. Die Konferenz wird jährlich vom Berliner Anwaltsverein ausgerichtet – in diesem Jahr zum Thema „Unabhängigkeit der Justiz“ in den Räumen der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland.
Der Berliner Anwaltsverein hatte vorab zu diesem Thema an alle Eingeladenen einen Fragebogen verschickt. Die Antworten auf diesen Fragebogen bildeten dann die Dossiers, die 15 Länder (Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich, Polen, Republik Korea, Rumänien, Schweiz, Slowakische Republik, Tschechische Republik, Türkei und Ungarn) eingeschickt hatten. Die Sammlung der Beiträge aus den verschiedenen Ländern ist über die Geschäftsstelle des Berliner Anwaltsvereins erhältlich.
Die vom Berliner Anwaltsverein vorab gestellten Fragen bezogen sich auf fünf Bereiche, nämlich auf die Organisation der Judikative, die Stellung der Richterinnen und Richter sowie die Stellung der Staatsanwaltschaft und die Stellung der Anwaltschaft; schlussendlich wurde nach aktuellen Brennpunkten und der jeweiligen Meinung der Ländervertreter gefragt.
Zu Beginn der Veranstaltung teilte der Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins, Kollege Uwe Freyschmidt, mit, dass 50 Rechtsanwälte aus 20 Ländern anwesend seien. Insbesondere hob der Vorsitzende hervor, dass er sich über die Anwesenheit der weit gereisten Kollegen aus der Republik Korea und der Türkei freue.
Monika Nöhre, ehemalige Präsidentin des Kammergerichts und jetzt Schlichterin bei der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft, referierte zunächst über die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland. Sie tat dies anhand von vier von ihr gebildeten Fällen; mit diesen wurde die richterliche Unabhängigkeit fachlich, wie persönlich, im Sinne der Weisungsfreiheit, der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit illustriert. Sie wies auf die schwache Stellung des Gerichtspräsidenten insoweit hin und auf die begrenzten Möglichkeiten, Richter nur durch strafrechtliche Verurteilung oder ein Urteil des Richterdienstgerichtes zwangsweise aus dem Dienst zu entfernen. Aus mehreren Jahren der Beobachtung des Richter-Dienstgerichts in Berlin (mit Zuständigkeit für mehr als 3000 Richterinnen und Richter) seien ihr nur zwei Verfahren bekannt, in denen Richter aus dem Dienst entfernt wurden.
Schlussendlich teilte sie mit, dass im Europäischen Kontext die deutsche Justiz als unabhängig, aber unmodern angesehen werde. Letzteres sei wohl, insbesondere wenn man sich die schleppende Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs ansehe, richtig. Hervorzuheben sei aber die Korruptionsfreiheit und die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit in der deutschen Justiz, auch wenn sie organisatorisch nicht so weitreichend ausgestaltet sei, wie in anderen europäischen Ländern. Bei aller Kritik an der Ausgestaltung der politischen Beteiligung bei der Ernennung von Richterinnen und Richtern sei jedoch zu beachten, dass es in Deutschland stets das Instrument der Konkurrentenklage gebe, durch das unterlegene Bewerber Auswahlentscheidungen in der Justiz durch die Justiz überprüfen lassen können. Als deutsche Eigenheit hob Monika Nöhre hervor, dass es nach deutschem Recht der Richterin und dem Richter freigestellt sei, sich in ihrer/seiner Freizeit parteipolitisch zu engagieren, jedoch nicht während der Dienstzeit und unter Beachtung des Mäßigungsgebots.
Die im späteren Verlauf der Diskussion von einigen Kollegen wieder aufgegriffene Frage, wie in Deutschland politische Betätigung von Richterinnen und Richtern erlaubt sein könne, beantwortete Uwe Freyschmidt, Berlin, u. a. mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Ablehnung von Richtern wegen Befangenheit, wenn öffentlich vorgenommene politische Wertungen auch im gerichtlichen Rechtsstreit relevant werden könnten.
Rechtsanwalt Dr. Wolff, Präsident der Österreichischen Rechtsanwaltskammertags, schloss sich an und führte aus, dass es um die richterliche Unabhängigkeit in Österreich ähnlich wie in Deutschland bestellt sei.
Auch in Österreich können Richter nur durch Strafurteil oder eine Disziplinarentscheidung aus dem Dienst entfernt werden. Probleme derzeit seien die Ersetzung von Richtern durch diplomierte Rechtspfleger und die (telefonische) Unerreichbarkeit der Richterinnen und Richter. Die richterliche Unabhängigkeit werde, so vermutete Dr. Wolff, teilweise instrumentell auch als Argument gegen eigentlich einsichtige organisatorische Änderungen eingesetzt (z. B. gegen die Einführung eines elektronischen Schließsystems für die Gerichte und Gerichtssäle, das zur Befürchtung etwaiger Überwachungsmöglichkeiten führte). Zum Problem der richterlichen Unabhängigkeit und politischen Parteizugehörigkeit eines Richters sowie aktiver Teilnahme am Wahlkampf wies Dr. Wolff auf die „Welser Erklärung“ der österreichischen Richtervereinigung hin, die eine Parteizugehörigkeit eines Richters als fragwürdig empfindet (siehe www.richtervereinigung.at/ueber-uns/ethikerklaerung).
Rechtsanwalt Esa Salonen, Helsinki, führte zum finnischen System aus. Ihm war wichtig, dass das finnische System – Ernennung von Richtern durch den Präsidenten auf Vorschlag des Justizministeriums – in seiner tatsächlichen Handhabung korruptionsfrei sei und Richtern ein großer Respekt entgegengebracht werde.
Barbara Dohmann QC, London, führte für England und Wales aus, dass es im Gegensatz zum Deutschen System durchaus möglich sei, bei Inkompetenz und Überforderung von Richterinnen und Richtern einen Antrag auf Ablösung beim nächsthöheren Gericht zu stellen. Besonders wichtig war ihr jedoch eine grundsätzlichere Anmerkung: Seit ca. drei Jahren gebe es im Zusammenhang mit den Brexit Entscheidungen eine regelrechte „Hetze auf den Richterstand“. So wurden die Richter des Supreme Court in einigen Medien geradezu als Feinde des Volkes deklariert, nachdem sie entschieden hatten, dass das Parlament eine Entscheidungsbefugnis im Hinblick auf den Brexit haben muss.
Kollege Prof. Dr. Necdet-Basa, Chefjustitiar der Union der Türkischen Rechtsanwaltskammern, Ankara, der gemeinsam mit dem Vizepräsidenten der Union der Türkischen Rechtsanwaltskammern die Konferenz besuchte, berichtete über die Lage in der Türkei. Seine vorweggenommene Conclusio zum Thema der Konferenz brachte er gleich zu Anfang: „Unabhängigkeit der Justiz? Hätten wir auch gerne!“ Im Zuge des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch sei die Unabhängigkeit der Justiz aufgehoben, wobei es auch zuvor schon einen „inoffiziellen“ Ausnahmezustand und keinen funktionierenden Rechtsstaat gegeben habe.
Zur Verdeutlichung des Zustandes ging er zunächst zurück in die Geschichte der letzten drei Jahre. Bereits vor dem Referendum vom 16.4.2016 sei die Justiz quälend langsam gewesen und zu Teilen nicht wirklich unabhängig. Mit dem Verfassungsreferendum vom 16.4.2016 seien einige Pfeiler in der türkischen Verfassung für eine Unabhängigkeit der Justiz mit dem obsiegenden Verfassungsreferendum weggeschlagen worden. Es ist nun so, dass gem. Artikel 146 der Verfassung von den 15 Richtern am Verfassungsgericht drei vom Parlament und 12 vom Präsidenten ernannt werden. Der ebenfalls wichtige Rat der Richter und Staatsanwälte setzt sich aus 13 Mitgliedern zusammen und nach dem Verfassungsreferendum werden ein Mitglied vom Justizminister, eines vom Staatssekretär des Justizministers, vier vom Präsidenten und sieben vom Parlament bestimmt. Außerdem könne der Präsident nun mit Dekreten die Legislative weitgehend beeinflussen. Bereits dies führte zu einer Vermischung der Gewalten. Unparteiische, unabhängige (oder nicht nur politisch gewollte) Richter seien daher kaum mehr denkbar.
Am 15.7.2016 gab es dann den Putschversuch. Bereits am 20.7.2016 wurde für drei Monate der Ausnahmezustand vom Präsidenten verhängt. Dies geschieht mit sogenannten „Beutelgesetzen“. Es handelt sich dabei um einen Sack voller Gesetze, über die das Parlament abstimmt und sich dann damit entmachtet. Seitdem wird so gut wie ausschließlich über Verordnungen des Präsidenten regiert. Das Verfassungsgericht hat es abgelehnt, die Ausnahmezustandsverordnungen verfassungsrechtlich zu überprüfen, sodass derzeit eine verfassungsrechtliche Prüfung der Maßnahmen des Präsidenten nicht stattfindet. Viele dieser Ausnahmeverordnungen haben mit klassischen Maßnahmen bei Ausnahmezuständen zu tun: z. B. Telefonüberwachung ohne richterliche Beschlüsse, Leibesvisitationen, Verlängerung der Festhaltensdauer ohne Vorführung usw. Die Richter und Staatsanwälte sind zu größten Teilen entlassen worden und zum Teil in Haft. Eine Überprüfung der Wirksamkeit der Entlassung (siehe oben) findet nicht statt.
Zurzeit werde die Stellung des Rechtsanwaltes von der Regierung noch nicht angegriffen (z. B. durch eine Änderung des Anwaltsgesetzes). Allerdings müssten Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen derzeit in der Türkei mit erheblichen Einschränkungen rechnen (man sieht den Mandanten lange nicht, die Akteneinsicht wird einem lange nicht gewährt, eventuelle Abhörung). Auf die Frage, wie denn den Kolleginnen und Kollegen und der Unabhängigkeit der Justiz geholfen werden könne, meinte Prof. Necdet-Basa, dass es ganz wichtig sei, die Kommunikation nicht abzubrechen, und lud dazu ein, zu einem Gespräch nach Ankara im Februar/März 2018 zu kommen, zu welchem die Rechtsanwaltskammer der Türkei einladen wird (Genaues steht noch nicht fest). Es soll dort um Artikel 23 und 24 der Verfassung gehen, nämlich um die Unabhängigkeit der Justiz in einem großen Symposium. Er, Prof. Necdet-Basa, hält es auch für problematisch, wenn die EU die Gespräche mit der Türkei abbreche. Eine instabile Türkei helfe niemandem, es bringe nichts, das Gespräch abzubrechen.
Prof. Necdet-Basa schloss mit den Worten, dass er und andere Kollegen alle ihre Kräfte dafür einsetzen werden, die Demokratie in der Türkei wiederherzustellen. Die Einzigen, die noch ihre Stimme erheben, seien die Rechtsanwälte. Diese seien nämlich von ihrem Auftrag her zur Verteidigung der Unabhängigkeit der Justiz und zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet. Auf Nachfrage von Rechtsanwältin Dr. Reni Maltschew, wie er und die Rechtsanwaltskammer persönlich mit der Bedrohung umgehen, antwortete Basa: „Diesen Luxus“, so Basa, „lassen wir uns von niemandem nehmen. Wir haben Angst vor niemandem und nichts!“
Aufgrund des Freundschaftsabkommens mit der Rechtsanwaltskammer Seoul war die Republik Korea bei der Konferenz des Berliner Anwaltsvereins wieder stark durch den Präsidenten Lee Cahn Hee, den Director of International Affairs Jeon Jae Min und den Vizepräsidenten Youm Yong Pyo vertreten. Korea hatte zunächst Teile aus dem europäischen Rechtssystem übernommen (Deutsches Zivilrecht aus der Zeit der japanischen Besatzung, französisches sowie Schweizer Recht). Der Respekt vor der Justiz und der Respekt, den man Richtern zollt, seien in Korea sehr groß, Richter sei der Traumberuf weiter Teile der akademischen Jugend. Im Übrigen verdienen sie sehr gut.
Dr. Kaufmann, Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, Berlin, berichtete zu drei Punkten in Bezug auf die Europäische Union: Das EU-Justizbarometer vergleicht seit 2013 jährlich die Situation der Justiz in den EU-Mitgliedsstaaten. Hier werden die Justizsysteme der EU-Länder nach Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit bewertet. Im Justizbarometer belegt Deutschland hinsichtlich der Kategorie IT (insb. Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs) den viertletzten Platz. Während der Zeit, seit es das Justizbarometer gibt, habe sich der Zustand – z.B. die Finanzierung – der Justiz in manchen Ländern, die insoweit auf den letzten Plätzen standen, verbessert. Einzige „Sanktion“ sei hier jedoch der peer pressure unter den Mitgliedsstaaten.
Er erläuterte die Wahl der Richterinnen und Richter in der Europäischen Justiz, nämlich des EuGH. Schließlich kam er auf das Rechtsstaatlichkeitsverfahren zu sprechen, das im Hinblick auf die Situation in Ungarn und Polen derzeit in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Dass die EU Probleme damit habe, mit unrechtsstaatlichen Entwicklungen mancher Länder umzugehen, sei seine persönliche Erfahrung seit 23 Jahren. Dies hänge zum Teil damit zusammen, dass beim Thema Rechtsstaatlichkeit oft die Verträge und Materialien nichts Konkretes enthalten.
Im Rahmen des „Europäischen Semesters“ erteile die Kommission länderspezifische Empfehlungen. Mit dem Lissabon-Vertrag gebe es den Artikel 7 des EU-Vertrages, der in Absatz 1 ein Feststellungsverfahren und in Absatz 2 Sanktionen bei Verletzung der Rechtsstaatlichkeit regelt. Das Feststellungsverfahren (die Kommission schlägt vor, einem Land gegenüber Empfehlungen zu unterbreiten; sofern der Rat dies mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit absegnet, erteilt er diese Empfehlung einem Land) werde durchgeführt. Sanktionen seien hingegen schwierig, da sie die Einstimmigkeit des Europarates (lediglich das betroffene Land ist von der Abstimmung ausgeschlossen) voraussetze. Oft bliebe dann nur noch das normale Vertragsverletzungsverfahren, sofern man einem Land in der Umsetzung von Gesetzen EU-Verstöße nachweisen könne.
Kollege Christian Christiani, Geschäftsführer des Berliner Anwaltsvereins, Berlin, wies auf die Diskussion über die Einstimmigkeit i. S. d. Art. 7 des EU-Vertrags hin – gegen zwei Mitgliedsstaaten, die die Prinzipien des Rechtsstaats verletzten und sich im Rahmen des Art.-7-Verfahrens gegenseitig mit einem Veto stützen, müsse ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gleichzeitig eingeleitet werden können – so eine Ansicht – mit der Folge, dass beide von der Abstimmung über Sanktionen ausgeschlossen sind. Die Diskussion bezieht sich auf die Probleme in Ungarn und Polen. Außerdem verwies er auf die „Venedig-Kommission“ des Europarats, die – neben der EU – ebenfalls Empfehlungen für Mitglieder des Europarats abgebe, die auch aufschlussreich für den Blick auf die Situation in anderen Ländern seien.
Ein Hauptthema waren die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen aus Polen zum Zustand der Justiz in Polen: Die Verfassungskrise um die Ernennung der („Nicht-“)Verfassungsrichter, die Reform der Arbeitsweise des Verfassungsgerichts, die „Justizreformen“, die u. a. die Ernennung bzw. Absetzung der Gerichtspräsidenten (und des Generalstaatsanwalts) durch den Justizminister ermöglichen, die Erweiterung der politischen Einflussnahme auf die Besetzung des Richterrats, die Beendigung der Amtszeit zahlreicher Richterinnen und Richter – darunter Gerichtspräsidenten – ohne Übergangszeit und – nicht zuletzt – die öffentliche Stimmungsmache gegen Richter und Justiz durch Politik, (halbstaatliche) Stiftungen und Presse. „Autokraten klopfen an der Tür!“, so das Fazit von Rechtsanwalt Ziemislaw Gintowt, Warschau, Mitglied des Vorstands der Polnischen Rechtsanwaltskammer. Im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Eingriffen der Polnischen Regierungspartei in die polnische Justiz sprach er von „so etwas wie einer Revolution“. Angesichts dieser Entwicklung hatte er drei Ratschläge für Juristen: „Behave correctly! Protest! Hope for change in the future!“
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