Ein Strafgerichtshof der Europäischen Union?
Die 20. Berliner Konferenz der Europäischen Rechtsanwaltschaften fand auf Einladung des Berliner Anwaltsvereins am 2. September 2022 in der Vertretung der EU-Kommission am Pariser Platz statt. Thema der Jubiläumskonferenz: Anwältinnen und Anwälte als Verteidiger der Menschenrechte – Lawyers as Human Rights Advocates
35 Teilnehmer aus elf europäischen Ländern und Vertreter der internationalen Anwaltsverbände, darunter des CCBE, nahmen am 2. September an der „Jubiläumskonferenz“ teil. Was 2001 als „Konferenz der Anwaltschaften der EU-Beitrittskandidaten“ startete, ist dem Berliner Anwaltsverein seitdem jährliche Verpflichtung: Der internationale Austausch mit Anwaltsorganisationen und ihren Repräsentanten bei der Berliner Konferenz der Europäischen Rechtsanwaltschaften, bei einem Empfang mit den Mitgliedern des Berliner Anwaltsvereins und – last but not least – beim traditionellen Berliner Anwaltsessen.
Stefan von Raumer, Vizepräsident des Deutschen AnwaltVereins, der die Konferenz gemeinsam mit Uwe Freyschmidt, dem Vorsitzenden des Berliner Anwaltsvereins, moderierte, leitete ein mit der Frage, die sich angesichts der Verbrechen in der Ukraine stelle: „Macht es überhaupt Sinn, anwaltlich und mit den Mitteln des Rechts Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen?“ Dies geschehe in ganz unterschiedlichen Kontexten, so Raumer, und benannte die Beispiele der Verteidiger in der Türkei, von Klimaschutzprozessen und – in der wirtschaftsrechtlichen anwaltlichen Tätigkeit – das Lieferkettengesetz.
EU-Konvention zum Schutz der Anwaltschaft
Piers Gardner, Menschenrechtsanwalt aus London und Vorsitzender der Permanent Delegation of the CCBE to the European Court of Human Rights, forderte die teilnehmenden Anwaltsorganisationen im Namen der CCBE (The Council of Bars and Law Societies of Europe, Brüssel) zur Hilfe auf: Die European Convention on the Profession of Lawyer, die in der EU die Standards der anwaltlichen Arbeit festigen soll, befindet sich in der Beratungsphase, hier sind Stellungnahmen der Anwaltsorganisationen und Kanzleien gefragt und erwünscht (wie der DAV sie gegenüber dem Bundesministerium der Justiz bereits abgegeben hat).
„Krise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“
Der zweite Hilferuf betraf die „Krise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,“ so Gardner. Ca. 17.000 Fälle warten derzeit beim EGMR auf gerichtliche Prüfung, so Gardner, bei jährlich ca. 1.100 Entscheidungen des Gerichts. Noch dazu komme das Problem der Effektivität in der Umsetzung von Urteilen, wenn Urteile (wie in der Türkei im Fall „Kavala“ das EGMR-Urteilung zur Freilassung) nicht umgesetzt werden. Die CCBE arbeite an Vorschlägen zur Reform des EGMR – „We need your help!“, so Gardner.
Europäische Menschenrechtskonvention vor nationalen Gerichten durchsetzen!
Er erläuterte, dass jedoch die Durchsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht allein vom EGMR abhänge. Dessen Rechtsprechung sei inzwischen auch vor englischen Gerichten geachtet, und Anwälte seien verpflichtet, alle Anspruchsgrundlagen – auch aus dem internationalen Recht – ihrer Argumentation zugrunde zu legen. Er wies auch auf die Entscheidungen aus Großbritannien hin, die die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR so gewissenhaft berücksichtigten, dass Fälle selten bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt werden. „We can achieve at our national courts what the European Convetion means,“ so Gardner.
Barbara Dohmann QC, London, ergänzte hierzu, dass bei Klagen in England in Formularen einschlägige Rechtsgrundlagen – einschließlich der EGMR – in dem jeweiligen Fall abgefragt werden und anzugeben sind. Von Raumer bestätigte die Bedeutung der EMRK für das deutsche nationale Recht am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das EGMR-Urteile inzwischen als verbindlich ansehe. Von Raumer führte weiter aus, dass die Unkenntnis der EMRK auch eine Haftungsfrage für Anwälte sein kann. Sie biete mögliche Anspruchsgrundlagen in vielen Rechtsbereichen, die nicht übersehen werden dürften. Er appellierte daher für angemessene Ausbildung der europäischen Anwaltschaft auch hinsichtlich der Konventionsrechte und der EGMR-Entscheidungen.
Andrus Lillo, Estland, wandte ein, dass bei manchen nationalen Gerichten die Berufung auf internationale Normen den Verdacht erwecke, man könne seine Rechtsposition nicht aus dem innerstaatlichen Recht herleiten. Matti Nurmela, Finnland, bestätigte, dass noch vor wenigen Jahrzehnten finnische Gerichte mit „raised eyebrows“ auf anwaltlichen Vortrag zur EMRK und EGMR-Urteilen reagiert hätten. Nunmehr seien die Urteile aus Straßburg jedoch hoch respektiert auch in der finnischen Rechtsprechung. Behar Ejupi, Präsident der Rechtsanwaltskammer der Republik Kosovo, erläuterte die Situation in seinem Land, „einem neuen Staat, noch nicht Mitglied in der EU“, und erinnerte im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine, „wir hatten eine solche Situation vor 20 Jahren,“ was auch im Kosovo zur Aufnahme von Menschen, vor allem Journalisten, aus der Ukraine geführt habe.
Lieferketten-Überprüfung als Compliance
Dominique Heintz, Paris, wies auf das seit 2017 bestehende Lieferkettengesetz in Frankreich hin, wonach größere Unternehmen (ab 10.000 Arbeitnehmern) eine Risikoplanung sowie Verfahrens- und Verbesserungsprozesse in ihren Lieferketten vornehmen und jährlich Bericht erstatten müssen. Hieraus ergebe sich zwar keine unmittelbare Rechtsfolge im Sinne von Schadensersatz etc., jedoch ein großes Risiko für einen Reputationsschaden. Die Lieferketten-Problematik werde also auf der Ebene der Compliance gelöst.
Aus erster Hand berichtete Prof. Dr. h. c. Wolfgang Schomburg, Rechtsanwalt und ehemaliger Richter an den Internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR), zur Genese, Praxis und Zukunft des Völkerstrafrechts. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) soll nur dann Verfahren führen, wenn die Mitgliedsstaaten dazu selbst nicht in der Lage sind, so Schomburg. An den internationalen Strafgerichtshöfen seien nur wenige Anwältinnen und Anwälte zugelassen, das internationale Strafrecht stelle noch eine „Nische“ für die Anwaltschaft dar. Zwar bilden sich verschiedene internationale Strafgerichte, wie in Sierra Leone („Blutdiamanten“) und Kambodscha. Doch die Erwartungen an internationale Strafgerichtshöfe seien wesentlich zu hoch, so Schomburg, doch schon der Beitrag zur „Wahrheitsfindung“ sei hoch einzuschätzen. Zwar habe das ICC 130 Mitgliedsstaaten, wozu jedoch nicht Russland, die USA, Indien, Malaysia und andere wichtige Staaten gehören.
Völkerstrafrecht als „ultissima ratio“
Doch nur internationale Strafgerichte könnten Regierungsmitglieder zur Verantwortung ziehen, die vor staatlichen Gerichten Immunität genießen. Allein viele gegenwärtige Äußerungen von Putin und Lawrow sollten Ermittlungen wegen „Aufrufs zum Völkermord“ nach sich ziehen. Alle Länder sollten ihr nationales Recht so ändern, dass sie Straftaten selbst verfolgen können, so Schomburg, so wie in Deutschland – „wenn Not am Mann ist“ – zum Beispiel Straftäter aus Ruanda verurteilt wurden, weil sie sich in Deutschland befanden.
Ein Europäischer Strafgerichtshof der EU?
Wenn Strafrecht die ultima ratio sei, so Schomburg, so sei das Völkerstrafrecht „ultissima ratio“. Und dennoch: „Warum kein Europäischer Strafgerichtshof? Sollte das nicht auf der Ebene der EU geschehen?“, forderte Schomburg.
Digitalisierte Justiz in Kriegszeiten
Die Situation der Ukraine bildete den traurigen Hintergrund und ein Leitmotiv in der Diskussion und auch bei den informellen Gesprächen der Konferenz. Ganna Vasylenko, Charkiw (jetzt Berlin) berichtete für die Rechtsanwaltskammer der Region Donezk über die Situation der Anwaltschaft und Justiz in der Ukraine während des russischen Angriffs. Rechtsanwälte könnten weiterhin arbeiten, die Strafverfolgung würde weiter funktionieren. Alle Gerichtsprozesse sind mit Online-Verbindungen möglich, alle Vorgänge der Justiz sind auch im Hinblick auf Geflüchtete voll digitalisiert, Papierdokumente können bei den Postämtern digitalisiert werden.
„Es kann auch in Ihrer Nachbarschaft passieren!“
Die Rechtsanwaltskammern bieten kostenlose Rechtsberatung für Militärangehörige an. Uneinheitlich und unklar ist anscheinend die Situation der Anwaltschaft und Justiz in den von Russland besetzten Gebieten. Ein eindringlicher Appell ging dann aus der ukrainischen Gruppe noch an die versammelte Gruppe: „Glaubt nie an russische Propaganda.“ Die Ukraine brauche weiter die volle Unterstützung und Wachsamkeit der anderen Europäer, denn: „Ich habe nie geglaubt, dass mein Nachbarhaus von Russland bombardiert werden könnte. Seien Sie sich nicht zu sicher, dass es in Ihrer Nachbarschaft nicht auch passieren kann.“
Die Publikation mit Antworten verschiedener Anwaltsorganisationen auf die Fragen des Berliner Anwaltsvereins können Sie über die Geschäftsstelle des Berliner Anwaltsvereins erhalten.
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