Kurz zum Kollegen Stickelberger
Der Autor der beiden Texte war Rechtsanwalt und Liedermacher aus Bern (Schweiz). Er ist am 21.12.2022 mit 82 Jahren an seinem letzten Wohnort in Zollikon (Zürich/CH) gestorben. Es gibt einen kurzen informativen Wikipedia-Eintrag über ihn. Dort finden Sie auch seine musikalischen und literarischen Veröffentlichungen.
Ich kam über einen Essay eines Schweizer Strafverteidigers auf den Gerichtshofnarr-Artikel, den ich saukomisch und realistisch fand und deshalb dem BAB vorschlug. Franz Hohler hat vor Jahren über Jacob Stickelberger folgendes geschrieben:
„Jacob Stickelberger ist Rechtsanwalt und als solcher mit den Ränken und Krümmungen menschlichen Denkvermögens eng vertraut. Die Hauptpersonen seiner Lieder müssen sich denn auch häufig durch wahre Labyrinthe von Überlegungen oder Handlungen zwängen, bevor die Sache dann doch ein schlechtes Ende nimmt, ähnlich wie im Prozesswesen.
Als Anwalt war sein Ruf mindestens so gut wie als Chansonnier, und zwar weil er eine in diesen Kreisen seltene Eigenschaft oder schon fast Eigenheit hat: er sagte nie mehr, als was er selbst glaubt. Deshalb glaubte man ihm das meiste, was er sagte. Daran änderte auch eine gewisse Umständlichkeit nichts, eine Umständlichkeit, die sich bis zur Bescheidenheit steigern kann. Lieber stellte er seinen Wagen eine Viertelstunde vom Theater entfernt in ein Parkhaus, als dass er sich auf den reservierten Parkplatz neben dem Theater verliess.“
Es beschreibt ihn, so wie er war.
Thomas Röth, Rechtsanwalt
Betrachtungen über den Anwalt
Der Gerichtshof-Narr
Jedem Narren gefällt seine Kappe
... und immer die Frage, ob ich wieder Rechtsanwalt werden möchte, wenn ich nochmals wählen könnte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich diesen Beruf vorsätzlich geplant habe oder ob er mir passiert ist. Sicher ist nur: Einmal jedenfalls muss ich formell Anwalt geworden sein. Das Diplom hat es mir schriftlich bestätigt. Dann brauchte ich ungefähr zehn Jahre, bis ich selber daran glaubte, und schleichend wurde ich zu meinem eigenen Amüsement inne, dass das Anwaltsein zu einem stets größeren Stück von mir wurde. Jahr für Jahr wird mir immer eindringlicher bewusst, dass ich
- von der Sprache lebe,
- also etwas zu sagen habe,
- aber machtlos bin,
- kein Mandat führen muss, das ich nicht führen will,
- außerhalb jeder Hierarchie stehe,
- parteiisch sein muss, folglich
- behaupten soll
- und deshalb etwas simpel sein darf.
Zum Hof gehört der Narr. Ein Königshof ohne Narr ist nur eine halbe Sache. Ein tagender Gerichtshof desgleichen. Sein Narr ist der Anwalt, der Gerichtshof-Narr. Nötig, machtlos, lästig – aber frei. Wahrhaftig ein „freier Beruf“ in seinem schönsten Wortsinn. Ich würde ihn, so ich könnte, also doch wieder wählen, den Beruf des Rechtsanwalts eben. Jedem Narren gefällt seine Kappe.
Die Macht der Sprache
Es gibt ein erlaubtes Anwaltstricklein, das allen bekommt, und das heißt: Zuerst einmal sofort liefern. Das geht so: Der Klient sitzt in deinem Büro und versucht, dir den Sachverhalt, den du am Ende durch den juristischen Fleischwolf zu drehen hast, zu schildern. Diesen Vorgang subsumieren wir nicht gerade liebevoll unter den Allerweltsbegriff „Instruktion“. Beim Klienten sprudelt es in der Regel nur so heraus, ihm zur Erleichterung und dich vom vorerst geduldig Zuhörenden zum zuletzt ungeduldigen Ekel verwandelnd. Er merkt es und beginnt, zu präzisieren und wird dabei noch länger, bis er am Ende selbst nicht mehr recht weiß, warum er eigentlich bei dir sitzt. Spätestens ab diesem Moment beißt dich zum tausendsten Mal die Frage, ob du nicht doch den falschen Beruf gewählt hast.
„Er hat es verdient, der Saukerl“
Aber jetzt ja nicht sagen, du müssest dir das Ganze vorerst einmal ruhig durch den Kopf gehen lassen und der Klient werde von dir wieder hören, denn nun erst kommt das Tricklein: In dem Moment, in welchem du definitiv genug oder eben gar nichts weißt, langst du nach dem Aufnahmegerät oder nach der Sekretärin und diktierst – vis-à-vis immer größer werdende Augen – einen furchterregenden Brief an den garstigen Widersacher. Er hat es verdient, der Saukerl. Das fertige Schreiben wird sogleich adressiert, frankiert – ab geht die Post – und die Orientierungskopie wird dem Klienten in sein ledernes Aktenköfferchen gelegt. Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Das hat sich gelohnt. Fortan bist du seiner Bewunderung und Hochachtung gewiss. Er hat live miterleben können, wie du in wunderbar gemeinen Worten auf zwei bis drei Briefseiten gerafft und präzis in die Welt hinausgepoltert hast, was ihn bisher stets so mulmig plagte. Genauso hat es dein Klient gemeint. Er wähnt sich verstanden, prompt versorgt und beliefert, sieht in dir den treuen Kampfkumpanen bis ans Ende seiner Tage, und du verlangst den Vorschuss. Die Macht der Sprache.
Vom mulmigen Gefühl bis zur Klageschrift
Und, lieber Richter, geht der Streit ans Gericht, landet der Schriftsatz auf deinem Pult, du überwindest dich nach Wochen oder Monaten, darin vorwurfsvoll, ja angewidert herumzublättern mit der abschließend hingeseufzten obligatorischen Frage, was es da überhaupt zu klagen gäbe. Doch wisse: Was du in Händen hältst oder im Plädoyer von uns zu hören bekommst, ist Dessert; relativ betrachtet natürlich. Zum fertigen Frischprodukt, d.h. zum Vorgetragenen im Gerichtsaal oder zur Klageschrift, sauber mit Word for Windows gestaltet, führt ein langer, langer Leidensweg, vom ersten Klientenhändedruck übers Abwägen bis hin zu den unzähligen Behauptungen, Substanzierungen, Spezifikationen und Bestreitungen, beschritten solo vom Anwalt. Das alles, lieber Richter, nehmen wir Rechtsvertreter dir gänzlich ab und du ahnst es contre coeur. Deshalb fühlst auch du: Wir sind selbst für dich nötig, wenn wir nur nicht so lästig wären, welchem Ärger du darüber mitunter genüsslich mit einem deiner Lieblingssätze in der Urteilsbegründung Luft machst, der da lautet: „Der durch einen kundigen Anwalt vertretene Kläger hätte wissen können ...“. - Mich schlottert, wenn ich nur schon daran denke, dass solches mein Klient zu lesen bekommt. Alle Mann auf Deck. Am besten gleich der Haftpflichtversicherung melden. Der Verantwortlichkeitsprozess folgt auf dem Fuß.
Anwaltsstreik
Es ist mir nicht bekannt, ob es irgendwo auf der Welt je einmal einen Anwaltsstreik gegeben hat. Aber wenn: Wie sähen wohl all die wirren Klagen, Antworten, Repliken, Dupliken und Tripliken aus und wes Inhalts wären sie, stammten sie samt und sonders aus der Hand des anwaltslosen Rechtsuchenden? Der Richter bekäme nach uns Anwälten Heimweh wie das Heidi in Frankfurt nach der Alp.
Der verlorene Prozess
Wir kennen sie, diese ewiggleichen Diskussionen unter uns Anwälten über die Richter. Bekommen wir Recht, ist das nichts als recht. Wir haben es ja schon immer gesagt. Wenn nicht, dann stellen wir generell bei den Richtern eine bedenkliche Qualitätseinbuße fest oder sie befinden sich im chronischen Rechtsirrtum. Die Anwaltsmeinung ist immer richtig; nur müssen wir eben stets gefasst dem Schicksal ins Auge blicken und damit rechnen: Le juge peut se tromper. Und ist das ursprünglich undenkbare Urteil nach charakterprägenden Prozessjahren halt dann doch zur vollendeten Katastrophe (sprich Endurteil) geworden – wir stehen fassungslos vor unserem zerstörten Lebenswerk.
„Le juge peut se tromper“
Doch anderntags haben wir uns wieder aufgefangen. Das mental für uns nunmehr zur Posse gewordene Urteil wird tapfer fotokopiert und mit Begleitschreiben an den Klienten weitergeleitet. Sammelt eigentlich niemand Anwaltsbriefe, in welchen die geschlagenen Rechtsvertreter ihrem Klienten erklären, warum es nun doch blöd herausgekommen sei? Das liest sich ausnahmslos derart überzeugend und tröstlich, dass der Mann im Grunde genommen froh sein kann, den Prozess verloren zu haben. Uns bleibt also letztlich wiederum nur die Macht der Sprache. Aber das weniger blumige, dafür das reale Machtwort gesprochen hat – und das schmerzt – allein der Richter, ganz ohne uns.
Der Richter im Tram
Obschon wir im Gerichtssaal etwas zu sagen haben, haben wir nichts zu sagen. Mächtig ist der Richter. Wir sind es nicht. Die Sprache verrät es: Wir Anwaltsnarren sind am Gerichtshof bloß „zugelassen“, knapp geduldet also, kaum besser als der akkreditierte Gerichtsberichterstatter, obschon sich mitunter auch bei diesem oder jenem Richter mit Grund fragen ließe, warum dieser beim Gericht zugelassen sei. Der Richter im Gerichtssaal auf seinem Richterstuhl: Wie viel lebensfremder und träger er im Vergleich zu seinem Gegenüber, dem agilen und eloquenten Anwalt auch sein mag: Er hat stets etwas Feierliches und beklemmend Angstmachendes. Wir wissen: Er hebt oder senkt am Ende seinen dicken Daumen, und unser Anwalts-Selbstwertgefühl ist für Wochen gerettet oder zerstört. Was unsere Lebenslust aufrechterhält, sind lediglich die kleinen Wechselfälle des Alltags. Je weiter räumlich sich der Richter von seinem Katheder entfernt, desto leichter wird uns ums Gemüt. Allein schon, wenn er, das Verfahren kurz unterbrechend, mit einem prozessrelevanten Aktenstück zu uns hintritt, um gemeinsam mit uns dessen Sinn zu ergründen – wir sind uns etwas näher gekommen. Später, immer noch im Gerichtsgebäude, aber draußen im Treppenhaus ein Richtergruß: Das macht ihn schon etwas menschenähnlich, und wenn wir zufällig und einige Tage später im übervollen Tram auf ihn buchstäblich stoßen, er mit Schirm, weil es draußen regnet, und räuspernd dir etwas Halblustiges zuraunend, dann, ja dann fühlen wir uns überlegen. Wir möchten ihm am liebsten auf die Schulter klopfen und ihn aufmuntern, nicht zu erschrecken. – Was dem Samson seine Haare sind, ist dem Richter sein Katheder.
Der gäbige (gern genommene) Artikel 404 OR (Obligationenrecht) ((in Klammern Anmerkungen der Redaktion))
Und doch: Im Prozesswesen sind wir dennoch in einem Punkt unendlich mächtig und der Richter gleichermaßen ohnmächtig: Wir können ihm nach Belieben friedensrichterliche Weisungen samt begleitender und formell richtig eingefädelter Klageschrift an den Kopf werfen. Er muss sie „an die Hand“ nehmen. Er ist von Amts wegen dazu verdammt und ich bemitleide ihn. Wirklich! Fröstelnd habe ich den Entscheid des Bundesgerichts gelesen, wonach der Richter dem prozessfreudigen Bürger offenbar erst dann sagen darf, jetzt kannst du mir blasen, wenn ihm dieser innert drei Jahren mit Zivil- und Strafverfahren ab Nummer hundertundsechzehn kommt (BGE 118 Ia 239). Die vorangehenden 115 Stück sind anscheinend im ordentlichen kontradiktorischen Verfahren zu erledigen, selbstverständlich unter Wahrung des in jedem Fall offenstehenden Instanzenzugs. – Heinrich, mir graut vor dir.
„Wir müssen nicht – wir dürfen“
Ist es da, angesichts solcher richterlicher Albträume, die täglich grausame Wirklichkeit werden können, nicht geradezu ein Genuss, Anwalt zu sein? Wir müssen nicht – wir dürfen! (Die schiere Brotfrage freilich, die sich durchaus stellen kann, spare ich dabei bewusst aus. Ist dem so, so gibt es weder für den sich ans Mandat klammernden Anwalt und noch weniger für seinen Klienten etwas zu lachen). Es ist dann nur noch eine Frage des persönlichen Stils, auf welche Weise wir nein sagen. Am eindrucksvollsten ist halt immer noch die Berufung auf Arbeitsüberlastung. Das macht sich gut.
Das freilich ist noch lange nicht alles. Auch wenn wir nicht so sicher sind, ob das Mandat angenommen oder abgelehnt werden soll – getrost im Zweifel immer annehmen, denn da ist der gäbige Artikel 404 OR. Er lässt uns den Blinden nehmen, (nicht zur Unzeit natürlich), dann nämlich, wenn der Klient sich zu einem auch gar unangenehmen Menschen entpuppt und mit jeder Besprechung mehr an den Nerven sägt. Es verschafft große Erleichterung, am Ende der Geduld dem Plagegeist gesetzlich toleriert schließlich schreiben zu dürfen, man lege das Mandat nieder.
Man fühlt sich nachher wie gewaschen und luftig angezogen. Ein neuer Anwalt als frischer Besen, der angeblich gut kehren soll, also dein Nachfolger, steigt in den Prozess, dein Klient ist auch zufrieden, hat er es doch immer geahnt, dass du seiner Sache nicht gewachsen bist. Glückliche Gesichter allenthalben. Nur einer hadert mit dem Schicksal und beneidet dich zutiefst: Der Richter bzw. der Referent, der den Prozess wie du das Mandat niederlegen möchte, aber nicht kann. Ihm hilft nur eines, um davon wegzukommen: Die Wegwahl zum Oberrichter.
Justitia, die blinde Kuh
Apropos Oberrichter: Ausgewogenheit ist ihre Pflicht; je höher, desto pflichter. Das allein schon hält sie von mancherlei Allotriatreiben ab; erschwerend kommt hinzu die Hierarchie. Da verlassen sie als liebe und lustige Mädchen und Knaben die Universität, wo es zum letzten Mal ein bisschen gemütlich war, werden Gerichtsauditoren, Substituten, Gerichtssekretäre, Gerichtsschreiber, unordentliche und später ordentliche Richter, Vizepräsidenten und Präsidenten, Oberrichter und schließlich Bundesrichter, Schritt für Schritt noch vorsichtiger, noch ausgewogener, noch verschwiegener und stets der eigenen zunehmenden Bedeutung und dem ebenso zunehmenden Gewicht im doppelten Wortsinn bewusster werdend. Sie halten zwar die Waage, getrauen sich aber, in die Jahre gekommen, immer weniger, auf sie zu stehen. Sie leiden darunter, institutionell eine Augenbinde tragen zu müssen, und sie lästern innerlich über Justitia, die blinde Kuh, die sie dem pulsierenden Leben definitiv entzogen hat. – Macht macht freudlos.
Der Größte
Richter sind deshalb kaum fröhlich, jedenfalls im Verhältnis zum hierarchischen Aufstieg degressiv abnehmend. Anwälte hingegen schon, und zwar darum, weil sie just nicht ausgewogen sein sollen, sondern parteiisch sein müssen. Und darum auch, weil es keine Unter-, Mittel- und Oberanwälte gibt. Es gibt nur, ohne spezifisches Diplom und Gehalt, Winkel- oder Staranwälte, wobei wir immer beides zugleich sind: Ersteres in den Augen der Kollegen und letzteres in unseren eigenen. Trotzdem oder gerade deswegen: Lebensgeprüft nehmen wir uns selbst nicht gar so ernst.
Der Anwalt schafft sich seine Stellung im Justizgefüge selbst, durch seine Individualität oder mitunter und möglicherweise auch Originalität, ohne dass ihm irgendwelche Insignien der Macht verliehen werden, keine Gradabzeichen, keine verordnungsgemäße Lohnerhöhung, nichts. Er bleibt nur Anwalt, mit seinen Jahrhundertfällen plagierend und andere Kollegen belästigend, der Größte, der Stärkste, der Gerissenste und Witzigste, ab und zu Armenanwalt, aber nie ein armer Anwalt. Und er darf, wenn er will, sanktionslos ein munterer Säufer sein. Kurz: Ein Narr, ein bisschen ewiger Bub und Pfadfinder. Wir wissen es.
Käuflich
Liebe und Gerechtigkeit – zwei hehre Begriffe; aber leider nicht in unserem Beruf. Darum sagen wir's geradeheraus, wie es ist: Im Puff ist Liebe zu kaufen und beim Anwalt Recht und die Potenz, gegen den andern loszutreten. Wir können uns – ein weiterer Vergleich – lediglich noch auf Fußballer berufen, um unser Gewissen zu beruhigen. Die gingen auch für oder gegen GC oder YB, herz- und treulos, allein angetrieben vom Geldsack, aus dem die satte Beteiligung an der Transfersumme quillt.
„Huren, Tschütteler und Anwälte sind sich ähnlich“
Trockene Feststellung also: Huren, Tschütteler und Anwälte sind sich ähnlich. Sie sind käuflich. Es soll mir keiner mit noch so schönen Worten kommen, untauglich versuchend, den Anwalt in einen Edelmann umzuformulieren. Wir lassen uns bezahlen und ergreifen Partei gegen den andern, der eigentlich ein ganz netter Kerl wäre. Da lege ich für einen Klienten mächtig los und mich ins Zeug. Man könnte meinen, ich sei bereit, für und mit ihm in Ehren unterzugehen. – Chabis. Hätte der vermaledeite Prozessgegner zufälligerweise fünf Minuten vor meinem jetzigen fabelhaften Klienten an der Bürotür geläutet, dann Gnade Gott dem letzteren.
Beiz und Prozesswesen
In der Tat: Wir sind käuflich. Folgerichtig kam deshalb ein Klient einmal aufgeregt zu mir, um mir mitzuteilen, der Gegner habe sich nun auch „einen Anwalt gepostet“. Recht hat er und treffend formuliert. Man geht zum Arzt, zum Pfarrer, zur Hebamme. Aber zum Anwalt, zu dem geht man nicht; den postet man, so wie der andere auch einen gepostet hat. Dann marschieren wir solcherart gekauften Rechtsvertretertypen stracks aufs Gericht, den verdatterten Klienten unter dem Arm, und aufeinander los. Die letzteren sitzen daneben oder hinter deinem Rücken und können nun eins zu eins miterleben und vergleichen, was sie sich da in dir erstanden oder eben gepostet haben. Prüf mit. Konsumentenschutz in optima forma. Im Prozesswesen ist es ähnlich wie in der Beiz. Das Menü/Verfahren wird vom Gast/Klienten sur place vom Entrée/Verfahrenseröffnung über den Hauptgang/Plädoyer bis und mit Dessert/Urteil genossen oder erlitten, stets in Anwesenheit des Lieferanten, und sowohl der Beizer als auch der Anwalt müssen andauernd mit Missfallenskundgebungen oder Unlustzeichen des Kunden rechnen. Schmatzen oder schnalzen sie, ist das hingegen ein gutes Zeichen.
Sachlich bleiben oder ausrufen?
Groß ist die Verunsicherung des Klienten, wenn der gegnerische Anwalt „besser wirkt“, und da sind wir bei einem riesigen Dilemma angelangt, das uns Anwälte plagt. Der Richter als Hammer und der Klient als Amboss. Dazwischen sind wir, die wir es immer einem nicht recht machen. Ein emotionaler, gestikulierender, polternder, also ein „nicht auf die Sache bezogener Anwalt“, kurz: Der leibhaftige Daumier-Helgen. Peinlich, meinen die Richter und halten zu dem traurigen Rechtspinsel würdevolle Distanz. Doch bleibst du ruhig, sachlich und knapp und hast es somit zu einer Art Richterliebling gebracht: schön und gut. Aber diesmal ist es dein Klient, der deinen Auftritt peinlich schilt. Der andere sei viel lauter gewesen und habe ausgeteilt, und er hätte gesehen, wie die Richter ganz erschrocken dagesessen seien. Das sei halt eben ein „energischer“ Anwalt, von dem du nur lernen könntest. Zerknirscht bezahlst du deinem vormaligen Brotgeber den Vorschuss zurück und stehst im gekündigten Mandatsverhältnis honorarlos da, und wenn es so weitergeht, kannst du am Ende deinen Saftlos-Laden schließen.
Tja, liebe Richter, ihr könnt gut überlegen tun. Aber würdet ihr, einmal als Anwalt funktionierend, so plädieren wie ihr präsidiert, so würde euch jedes Mandat noch während der Verhandlung von hinten meuchlings entzogen. Habt also für unsere Situation ein ganz klein wenig Verständnis.
Wir gestehen
Nun wende ich mich wieder an uns, liebe Kollegen, mit folgender Bitte: Seien wir ein einziges Mal ehrlich, so schwer das uns von Berufs wegen fällt, und lasst uns zugeben: Wir sind alle etwas simpel und einfach, ja, wir dürfen und sollen es sogar sein. Natürlich sind wir ein bisschen gründlich, ein bisschen juristisch geschult und ein bisschen gescheit, aber eben alles immer nur ein bisschen. Wären wir es ganz, so würde solches Ungemach das schleichende Ende unserer Berufskarriere einläuten. Lasst es mich im Folgenden kurz erklären.
Summarisches Verfahren für Anwälte
Wo kämen wir hin, wenn die von uns abzufassende Rechtsschrift durchwegs sachverhaltsmäßig gründlich wäre? Nirgends. Rückfragen, Abklärungen, Nachfragen, Besprechungen zuhauf, erste Lesung der Rechtsschrift, dann die zweite, Durchrechnen der Klagesummen, die mit der Begründung ohnehin nie übereinstimmen, Papierkörbe voller Entwürfe. Nein, so geht und ginge es in der Tat auch nicht, wenn uns nicht – gottlob – das in keiner ZPO geregelte summarische Verfahren für Anwälte zur Verfügung stünde: Wir behaupten deshalb ungeprüft bloß einmal vorsorglich, und zwar mit angeblichem Wissen. Als Gegenstück dazu bestreiten wir ebenfalls einmal vorsorglich, vorzugsweise diesmal mit Nichtwissen. So etwas Praktisch-Primitives! Komme ich also nicht mehr draus, welcher Sachverhalt mich eigentlich zur rechtlichen Wunschvorstellung führt: Macht nichts. Behaupten kann ich's ja, und schon habe ich erstens Zeit gespart und zweitens meiner prozessualen Pflicht genügt. Der Richter wird's mir dann erklären bzw. in seinem Urteil schon begründen, was ich ursprünglich gemeint habe.
Hände weg von der Jurisprudenz, oder: Iura novit curia
Die Prozessordnungen schreiben in der Regel vor, dass der Anwalt irgendeinmal seinen Rechtsstandpunkt bekannt zu geben habe bzw. rechtliche Ausführungen machen soll, sei dies je nach Kanton in den Rechtsschriften oder später im Plädoyer. Doch die Rechtswirklichkeit ist ratzekahl anders. Es gibt eben gerade nichts Ungeschickteres, als wenn der Anwalt Lehre, Rechtsprechung und seine eigenen rechtlichen Argumente einigermaßen erschöpfend und überzeugend dem Gericht unterbreitet, in der irrigen Hoffnung, sein Standpunkt bzw. seine Rechtsbegehren würden deswegen eher geschützt. Nein und nochmals nein! Und wer's einfach nicht lassen kann. Gezielt nur ein paar irrelevante BG-Entscheide zitieren und die maßgebenden weglassen, denn vergessen wir nie: Iura novit curia. Eine rechtlich brillant und tadellos begründete Klageschrift geht an die Richterwäsche bzw. -ehre und ist deshalb schlicht eine Katastrophe. Denn ein solcherart gedemütigter Richter hätte diesfalls und im Grunde genommen nur noch die Möglichkeit, die Klage gutzuheißen und im Übrigen auf deren zutreffende Begründung zu verweisen. Hätte – tut er aber nicht. Dir einfach so recht geben? Nur das nicht. Lieber lässt er dich den Prozess mit grundfalschen juristischen Motiven verlieren, dafür mit eigenen.
„Lasst den Richtern Rechtsluft, das bedeutet Luft im Rechtlichen, denn sie teilen euren Rechtsstandpunkt ohnehin nie“
Er sagt, was rechtens ist, nicht du. Darum, liebe Kollegen, nochmals: Am besten Hände weg von der Jurisprudenz oder wenigstens: Lasst den Richtern Rechtsluft, das bedeutet Luft im Rechtlichen, denn sie teilen euren Rechtsstandpunkt ohnehin nie. Wagt ihr es, einen einzigen solchen unter vielen anderen – die meisten also weglassend – verschämt in eure Klageschrift einfließen zu lassen, so ist das zwar sehr gefährlich, doch euch bleibt immerhin die Chance gewahrt, den Prozess dennoch zu gewinnen. Die Quintessenz des möglichen Urteils lautet dann etwa so: „Richtig im Ergebnis, falsch in der Begründung“, und es folgt anschließend die zutreffende und nunmehr vom Richter stammende, der darin zwar deine Klage schützt, dir aber zu verstehen gibt, dass du nichts dafürkannst, gewonnen zu haben, du Trottel. – Du hast juristisch wieder einiges hinzugelernt, darfst davon später aber ja keinen Gebrauch machen.
Simplex Simplizissimus
Besser schließlich auch, wir Anwälte sind nur halbe Intelligenzbestien und nicht ganze. Eine Vollbegabung ist lähmend und prozesshinderlich. Derjenige nämlich, der gut zuhören und den Gedankengängen des Prozessgegners bis ins letzte folgen kann, ist schwer benachteiligt. Weil er wegen seiner Gescheitheit eben nicht anders kann, als dem andern zuzuhören und ihm zu folgen, riskiert er, sich von den Gegenargumenten ansatzweise überzeugen zu lassen, und er fängt handkehrum an, an seinem eigenen Standpunkt zu zweifeln. Das Gift beginnt zu wirken. Er wird unsicher, verheddert sich, blättert sinnlos in den Akten, beantragt, die Verhandlung sei zu verschieben und der Klient ist bereits auf der Suche nach einem „scharfen“ Anwalt, denn sein bisheriger sei k.o. gegangen.
„Wie unendlich bevorteilt ist derjenige, der nichts anderes als seinen Standpunkt kennt“
Wie unendlich bevorteilt ist derjenige, der nichts, aber wirklich nichts anderes als seinen Standpunkt kennt und den gegnerischen – wie treffend dieser auch immer ist – nicht zur Kenntnis nehmen will, weil er mangels Vollintelligenz gar nicht kann. Ein solcher Anwalt ist die Inkarnation von Ruhe, Überlegenheit und Standfestigkeit, nie von Selbstzweifeln gepeinigt, kann losdonnern, er hätte noch nie etwas Dümmeres gehört, als was soeben aus Richtung Gegenpartei gekommen sei, oder er sieht deren weiteren angedrohten rechtlichen Schritten mit der ihm eigenen berühmten Gelassenheit entgegen. Damit gewinnt er zwar keine Prozesse, sondern sie gehen ihm gerade deswegen ganz gern bachab. Macht aber nichts. Ein Verfahren geht lang und während all der vielen Prozessjahre wird er von seinen Klienten andauernd und überall über den grünen Klee gerühmt. Tough guy. 1000-mal gerühmt und ein einziges Mal eine Schimpftirade über sich ergehen zu lassen, nur zuallerletzt nämlich, wenn es dann doch schief herausgekommen ist, damit lässt sich leben. Eine solche Rechnung geht auf. Wahrhaftig, ein Prachtkerl von einem Kollegen. Der gibt's den andern, der nicht am Hungertuch nagende und in den Medien herumgereichte Staranwalt. Der Narr der Narren.
LLM im GTI – lebe wohl, lieber Narr
Bei allem Schimpfen und Lachen über mich und meine Kollegen beschleicht mich zuletzt dennoch eine leise Wehmut. Der Narr, ein Stück Rechtsgeschichte, verlässt unbemerkt den alten Gerichtshof, und es parkt an seiner Stelle der amerikagestylte LLM im GTI vor dem teuer aufgefrischten Gerichtsgebäude, wo keine Anwaltszimmer mehr sind. Dafür gibt's unten in der Cafeteria Snacks. Nie kann ich den Namen dieses sympathischen, aber immer gleicher aussehenden Kollegen behalten. Einmal wird er von diesem Großbüro hergeschickt, dann wieder vom andern, bis ich merke, dass es sich offensichtlich um verschiedene Menschen handeln muss. Der sogenannte Einzelkämpferkollege hingegen, den wir weiß Gott sattsam kannten, ihn hassten, bewunderten und uns über ihn lustig machten, dieses knorrige und witzige Individuum, an einer Anwaltsversammlung mit seinem Votum wieder einmal zum Kranklachen zuschlagend: Es wird zum immer seltener werdenden Exemplar. – Lebewohl, lieber Narr.
Jacob Stickelberger, aus „Recht, Macht und Gesellschaft“, Hrsg. Baumgartner / Schuhmacher, Zürich 1995