„Wir machen die Justiz fit für das 21. Jahrhundert“
Wie steht es um die Berliner Justiz?
Ein Gespräch mit Justizsenator Dirk Behrendt. Interview von RA Thomas Röth erschienen im Berliner Anwaltsblatt Ausgabe 4/2017
Digitalisierung
BAB: Welche persönlichen Prioritäten haben Sie für Ihre Amtszeit?
Behrendt: Wir als Koalition haben uns auch für den Bereich Justiz einiges vorgenommen: Das fängt bei der IT-Ausstattung der Gerichte an. Wir müssen die Justiz fit machen für das 21. Jahrhundert. Ein weiteres wichtiges Thema ist in der Justiz immer die Frage, wie es mit dem Personal weitergeht. In den kommenden Jahren werden viele erfahrene Kräfte in Pension gehen. Wir werden die Frage beantworten müssen, wie man genug Nachwuchskräfte findet.
Darüber hinaus haben wir im Koalitionsvertrag verabredet, das Internet ins Gefängnis zu bringen. Wir wollen den Gefangenen moderne Kommunikationsmöglichkeiten an die Hand geben. Das Stichwort lautet hier: „Resozialisierung durch Digitalisierung“. Warum sollte ein Gefangener, der kurz vor der Haftentlassung steht, für die Arbeits- und Wohnungssuche nicht das Internet nutzen, so wie alle anderen es draußen auch machen?
Sie haben das Thema IT angesprochen. Wann können wir in der Zivilgerichtsbarkeit oder in der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach Einführung des beA auch mit einem insgesamt digitalisierten Verfahren rechnen? Was sind die nächsten Schritte dahin?
Bereits jetzt nehmen alle Berliner Gerichte mit Ausnahme des Verfassungsgerichtshofes am elektronischen Rechtsverkehr teil, und sind damit auch über das besondere elektronische Anwaltspostfach erreichbar. Die Digitalisierung darf jedoch nicht in der Poststelle der Gerichte enden. Es ist wenig sinnvoll, eingehende elektronische Schriftsätze zunächst auszudrucken und dann händisch weiterzubearbeiten. Wir werden die Gerichte in die Lage versetzen, das Verfahren dann auch mit der digitalen Akte fortzuführen.
In der Sozialgerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind wir schon relativ gut aufgestellt. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist dagegen noch einiges zu tun, hier arbeiten wir immer noch mit dem Programm „Aulak“, das aus den 90er Jahren stammt und überhaupt nicht zeitgemäß ist. Was die Umstellung auf „ForumSTAR“ betrifft, mussten wir feststellen, dass die Justiz noch nicht so weit ist, wie ich mir das bei meinem Amtsantritt gewünscht hätte. Mittelfristig wollen wir auch die technischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass beispielsweise auch in den Gerichtssälen ein direkter Zugriff auf die elektronische Akte möglich ist.
Die Arbeitsgerichtsbarkeit gehört nicht zu Ihrer Zuständigkeit. Wird es hier eine einheitliche Lösung mit der übrigen Justiz geben?
Für die Arbeitsgerichtsbarkeit ist in Berlin die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales zuständig. Auf Arbeitsebene besteht aber eine enge Zusammenarbeit in Bezug auf den elektronischen Rechtsverkehr und die E-Akte.
Wird eine Software nur für die Berliner Justiz entwickelt oder bundeseinheitlich?
Lassen Sie uns da ins Detail gehen, was wir mit „Software“ meinen. Wir haben mehrere Verbünde, was die IT-Fachverfahren angeht. Zum Beispiel hat sich für die Entwicklung der Software „ForumStAR“ für die ordentliche Gerichtsbarkeit ein Verbund von zehn Bundesländern gebildet. Im Rahmen der Modernisierung von „ForumSTAR“ wird es also eine gemeinsame Lösung mit den übrigen Bundesländern geben.
Grundsätzlich gibt es für die Berliner Justiz die Entscheidung, keine Sonderwege mehr zu gehen. Deshalb werden bereits vorhandene Eigenentwicklungen – wie eben „Aulak“ – durch Verbundverfahren ersetzt.
Der Föderalismus scheint in Sachen E-Justice eine Bremse zu sein. Sind am Ende die technischen Voraussetzungen und Standards und damit die Abläufe in der Justiz nicht Deutschlandweit gleich? Wäre es nicht wünschenswert, dass alle Gerichte am Ende den gleichen Standard haben?
Wir sind hier auf einem guten Weg, bereits jetzt arbeiten mehrere Bundesländer jeweils in Verbünden zusammen und auch zwischen den Verbünden selbst gibt es einen Austausch. Wir werden es aber wahrscheinlich nicht hinbekommen, dass alle Gerichte und auch Staatsanwaltschaft und Polizei eine einheitliche Software-Lösung verwenden. Wichtig ist, dass die Schnittstellen kompatibel sind. Bei den Schnittstellen zwischen Strafgericht, Staatsanwaltschaft und Polizei ist noch nicht das Optimum erreicht. Aber beispielsweise beim Sozialgericht kommuniziert man mit den Rentenversicherungsträgern bereits ausschließlich digital. Da funktioniert das.
Personalentwicklung
Sie haben das Thema Personal schon angesprochen. Berlin ist ja eine wachsende Stadt. Da sollte man erwarten, dass die Justiz mitwachsen muss. Wo sehen Sie im Moment den größten Personalbedarf in der Justiz?
Ganz aktuell haben wir einen deutlich angestiegenen Geschäftsanfall beim Verwaltungsgericht aufgrund der Geflüchteten. Darauf hat schon der Vorgängersenat reagiert und wir haben jetzt weitere Stellen im Nachtragshaushalt vorgesehen.
Die versprochenen 13 neuen Stellen im Verwaltungsgericht werden also jetzt demnächst besetzt?
So ist es. Im Übrigen versteht es sich von selbst, dass man den Geschäftsanfall in den verschiedenen Bereichen im Blick behält und dann gegebenenfalls personalpolitisch nachsteuert. Eine Besonderheit sind die erfreulicherweise abnehmenden Eingangszahlen beim Sozialgericht. Der jahrzehntelange Auflauf durch ALG-II-Verfahren ist gestoppt. Wir haben aber verabredet, dass für die noch bestehenden Rückstände die Richterstellen zunächst erhalten bleiben.
Berlin hat im letzten Jahr 62 Richterinnen und Richter plus neun Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einstellen können. Und wir haben vor, auch in diesem Jahr nochmal 80 Richterinnen und Richter und 12 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einzustellen, weil größere Pensionierungswellen in den nächsten Jahren anstehen. Im Hinblick darauf, dass wir in Berlin knapp 1.300 Richter und 350 Staatsanwälte haben, ist das schon eine sehr, sehr ordentliche Anzahl. Das sind über 10 Prozent des Personalbestands.
Wie groß sind denn die Pensionswelle und das Verhältnis von Pensionierungen und Neueinstellungen?
Nach der Wiedervereinigung der Stadt gab es Anfang der 90er Jahre eine Einstellungswelle. In Berlin wurden ja fast alle Richterinnen und Richter aus der ehemaligen DDR entlassen, anders als in anderen neuen Ländern. Die damals eingestellten Richterinnen und Richter haben alle etwa dasselbe Alter und werden in den kommenden Jahren in Pension gehen. Und da gilt es bereits jetzt, Vorsorge zu treffen.
Wir sind froh, dass wir in Berlin – anders als in anderen Bundesländern – noch eine ausreichende Zahl qualifizierter Bewerberinnen und Bewerber für den Richter- und Staatsanwaltsdienst haben. Offenbar sind wir doch noch attraktiv …
… obwohl Richterinnen und Richter hier geringer bezahlt werden.
Die Bezahlung ist offenbar nur ein Faktor. Berlin ist so attraktiv, dass die Menschen trotz der nicht besonders berauschenden Bezahlung gerne hierher kommen. Allerdings verschließen wir als Senat auch nicht die Augen vor den deutlich steigenden Lebenskosten in Berlin. Das betrifft insbesondere die Mieten. Daher haben wir verabredet, dass wir für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst bis 2020/2021 bei der Bezahlung den Bundesdurchschnitt erreichen wollen. Wir werden dann aus der hintersten Position des Feldes in die Mitte aufrücken. Hierfür haben wir bereits im Nachtragshaushalt für dieses Jahr Mittel bereitgestellt.
Was sind derzeit die Einstellungsvorraussetzungen?
Es gibt keinen harten Notenschnitt. Wir führen seit einigen Jahren Auswahlgespräche durch. Deren Ergebnis ist das Entscheidende.
Haben Sie als Justizsenator die Probleme mit der Verteilung der Gerichtsressourcen hautnah schon miterlebt? Lässt sich nicht auch mit Umverteilung von Ressourcen zwischen den Gerichten gegensteuern …?
Den einen oder anderen Engpass haben wir, aber den kann man nicht von heute auf morgen abstellen. Wenn jemand Justizfachangestellte beziehungsweise Justizfachangestellter werden möchte, Sie können morgen anfangen! Wir haben eine Monopolausbildung, das heißt, dass wir nicht auf externe Kräfte zurückgreifen können, sondern uns das Personal erst nach der Ausbildungszeit zur Verfügung steht. Wir haben die Ausbildungskapazitäten sowohl im Bereich des Allgemeinen Vollzugsdienstes als auch im Bereich der Justizfachangestellten aber jetzt ganz deutlich verstärkt und suchen Auszubildende. Wir machen uns dabei auch Gedanken, wie wir Menschen mit Migrationshintergrund dazu begeistern können, zur Justiz zu kommen. Denn da ist noch viel Luft nach oben.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es beim Landgericht in Zivilsachen ganz erhebliche Engpässe gibt – die Richter sind da, aber die Geschäftsstellen sind anscheinend nicht besetzt …
Die Einsparvorgaben, die für die gesamte Berliner Verwaltung galten, wurden in der Justiz nicht bei den Richtern und Staatsanwälten umgesetzt, sondern in den Geschäftsstellen. Deshalb wartet man nun länger auf Kostenfestsetzungen und Grundbucheintragungen.
Beim Vollzugsdienst in den Haftanstalten ist die Situation noch angespannter: Die Vor-Vorgängerkoalition hatte entschieden, dass mehrere Jahre gar keine Mitarbeitende mehr ausgebildet werden. Das hat Lücken gerissen, die schwer zu füllen sind. Es laufen derzeit sieben Ausbildungslehrgänge parallel mit insgesamt 120 Auszubildenden. Auf diese Weise werden wir die Situation bis zum Jahresende halbwegs normalisieren können.
Mit welchem Ziel wird derzeit die Struktur des Landgerichts überprüft?
Die Struktur des Landgerichtes mit seinen drei Standorten ist ja schon lange in der Diskussion. Es ist eben eine sehr große Verwaltungseinheit. Allein aufgrund der hohen Personalzahl ist es der Präsidentin kaum möglich, alle Richterinnen und Richter des Landgerichts persönlich zu kennen, geschweige denn die weiteren Mitarbeitenden. Kleinere und damit überschaubarere Verwaltungseinheiten wären wünschenswert.
Wir sind sehr offen für Überlegungen, ob man mit einem Landgericht weitermacht oder vielleicht besser mit zwei oder drei Landgerichten. Ganz bewusst ziehen wir dabei auch die Kolleginnen und Kollegen beim Landgericht – das sind ja die unmittelbar Betroffenen – in die Diskussion mit ein.
Transparenz und richterliche Unabhängigkeit
Eine Forderung des Koalitionsvertrages: Transparenz bei der Bestellung von Insolvenzverwaltern und bei Pflichtverteidigern. Was lässt sich da von Seiten der Politik regeln?
Das ist ein Projekt, das wir sozusagen von der alten Koalition geerbt haben, die hier auch nicht wirklich weitergekommen ist. Dafür gibt es aber auch Gründe.
Zum Beispiel die richterliche Unabhängigkeit …
Die richterliche Unabhängigkeit und andere Aspekte wurden diskutiert. Das ist kein Projekt, das wir uns für dieses Jahr vorgenommen haben. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass man da ein, zwei Schritte weiterkommt.
Sie haben nun die Gelegenheit, dem Berliner Anwaltsblatt zu sagen, wer die neue Generalstaatsanwältin wird!
Das entscheidet der Berliner Senat. Ich mache da nur einen Vorschlag.
Fußfessel bei „Gefährdern“
Aus aktuellem Anlass: Derzeit werden international an vielen Stellen rechtsstaatliche Standards geschwächt und Tabus gebrochen. Wie beurteilen Sie die Initiative aus Bayern, „Gefährder“ ohne zeitliches Limit in Vorbeugehaft nehmen zu können?
Die Berliner Koalition unterstützt keine Überlegungen, die in Richtung Schutzhaft für Gefährder gehen. Wir sind der Meinung, dass auch nach dem Anschlag am Breitscheidplatz – wo auch Berlin zum Tatort des internationalen Terrorismus geworden ist – rechtsstaatliche Standards gewahrt bleiben müssen.
Wir beobachten aber auf Bundesebene eine Fülle sich fast schon überschlagender Gesetzesaktivitäten. Allein die Fußfessel soll momentan in drei Gesetzesprojekten ausgeweitet werden: Im Maßregelrecht nach einer Verurteilung, im BKA-Gesetz zur Überwachung sogenannter Gefährder und im Rahmen des Paketes zur Beschleunigung von Abschiebungen.
Als Mitglied des Bundesrates habe ich schon den Eindruck, dass der eine oder andere Schnellschuss dabei ist. Wir können das als Länder nur teilweise korrigieren, weil die vorgelegten Gesetze nur zum Teil Einspruchsgesetze sind.
Was die Fußfessel angeht, halte ich die Einschätzung der Berliner Staatsanwaltschaft für richtig, dass in Großstädten wie Berlin die Fußfessel auch aus technischen Gründen schnell an ihre Grenzen kommt. Wir können in einem Haus mit mehreren Etagen nicht einmal feststellen, in welchem Stockwerk sich der Träger aufhält, weil die Technik nicht die Höhe misst, sondern nur horizontale Bewegungen. Häufig gibt es wegen der engen Bebauung sogenannte „Verschattungen“, so dass Fehler gemeldet werden, obwohl der Proband nichts falsch gemacht hat.
Um Terrorismus zu bekämpfen, ist es außerdem notwendig, dass die Sicherheitskräfte unmittelbar eingreifen können. Gerade das aber ist bei der Fußfessel nicht gegeben: Selbst wenn der Attentäter vom Breitscheidplatz eine Fußfessel getragen hätte …
… wie der Täter von Saint-Etienne-de-Rouvray in Frankreich …
… wie der Täter in Frankreich – dann hätte es die Tat nicht verhindert. Die Fußfessel ist zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus jedenfalls nicht das richtige Mittel.
Diversität
Der Koalitionsvertrag sieht eine Sensibilisierung aller in der Justiz Beschäftigten in Bezug auf LSBTTIQ* vor. Was haben Richter und Staatsanwälte bisher falsch gemacht, dass sie so eine Fortbildung brauchen?
Wir haben ja schon seit vielen Jahren Ansprechpartner für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der Berliner Polizei und bei der Berliner Staatsanwaltschaft. Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Im Kern geht es ja darum, die Anzeigebereitschaft von Opfern aus dem LSBTTIQ*-Bereich zu erhöhen. Natürlich gab es vor der Einführung auch Stimmen, die davor warnten, dass man damit betonen würde, es gebe Defizite. Diese Stimmen sind aber verstummt und wir sind sehr zufrieden, dass es die Ansprechpartner gibt.
Das kann ich gut nachvollziehen. Aber worin besteht der Bedarf bei Richterinnen und Richtern?
Sicher werden wir hier keinen Ansprechpartner für LSBTTIQ*-Personen schaffen. Aber dennoch ist es wichtig, dass die Richterinnen und Richter die Vielfalt der Stadt bei ihrer Berufstätigkeit reflektieren. Ich wünsche mir auch auf der Richterbank eine größere Diversität. Wir haben in den letzten fünfzehn Jahren erfreulich viele Menschen mit Migrationshintergrund an den Fakultäten. Das war, als ich Anfang der 90er Jahre angefangen habe zu studieren, noch nicht so.
… auch in der Anwaltschaft übrigens …
Auch dort, genau. Aber bei den Gerichten und bei der Berliner Staatsanwaltschaft hat sich das noch nicht so ausgewirkt, wie ich es mir wünschen würde. Deswegen ist es wichtig, dass sich die Kolleginnen und Kollegen in den Gerichten mit Diversity in der Stadt auseinandersetzen.
Ich bin übrigens sehr froh darüber, dass wir hier im Haus für das Projekt „Willkommen im Rechtsstaat“ verantwortlich sind. Richter und Staatsanwälte erklären in ihrer Freizeit als authentische Vertreter des Rechtsstaats Geflüchteten die Grundlage unseres Rechtsstaates. Die Kollegen berichten mir, dass das eine Win-win-Situation für beide ist. Auch für die Richter und Staatsanwälte, die im unmittelbaren Kontakt mit den Geflüchteten einiges für sich mitnehmen können.
Das Gespräch führten Thomas Röth, Rechtsanwalt Fachanwalt für Straf-, Arbeits-, Miet- und Wohnungseigentumsrecht sowie Richter am Anwaltsgericht, und Christian Christiani, Rechtsanwalt und Geschäftsführer des BAV, am 1 März 2017.
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