Zeugen in der Hauptverhandlung
Vernehmungsrecht – Vernehmungslehre – Vernehmungstaktik
Hans-Joachim Gerst (Hrsg.), ZAP-Verlag für die Rechts- und Anwaltspraxis, 1. Auflage 2016, 576 Seiten, Hardcover, EUR 89,00, ISBN 978-3-89655-735-3
Rezension von Rechtsanwalt Thomas Röth aus der Ausgabe Dezember 2016 des Berliner Anwaltsblatt.
Kollege Dr. Gerst aus Hamburg hat soeben den Band mit dem oben angegebenen Titel im ZAP-Verlag herausgegeben. Das Buch ist zweigeteilt. In Teil 1 geht es um die Praxis der Zeugenvernehmung und in Teil 2 werden die wichtigsten StPO-Normen zum Zeugenbeweis kommentiert. Absicht ist, eine Art Monographie über Zeugen in der Hauptverhandlung zu schreiben und dem Praktiker für die Verhandlung sowohl praktische Handreichungen als auch einen Kommentar zur Verfügung zu stellen.
Der Kommentarteil ist vom Herausgeber allein verfasst. Der praktische Teil im ersten Abschnitt (Psychologie und Taktik der Zeugenvernehmung) wiederum vom Herausgeber. Der zweite Unterabschnitt des ersten Teils, „Speziell wiederkehrende Konstellationen der Zeugenvernehmung“, ist hinsichtlich der Vernehmung von Berufszeugen (Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte) vom Kollegen Meinicke, hinsichtlich des Kapitels „Die Vernehmung von Zeugen als Nebenkläger“ vom Kollegen Dr. Ufer, hinsichtlich des Kapitels „Vernehmung von Kindern und Jugendlichen als Zeugen“ von der Kollegin Hirsch, hinsichtlich der Befragung geheimer Ermittler vom Kollegen Prof. Sommer und hinsichtlich des dritten Abschnitts (der anwaltliche Beistand des Zeugen) vom Kollegen Prof. Gercke verfasst. Der praktische Teil und der Kommentarteil machen jeweils die Hälfte des Buches aus. Im Kommentarteil werden die §§ 48 bis 70, 85, 239 bis 242, 247 a und 248 StPO kommentiert.
Der Kommentarteil ist nach stichprobenartiger Lektüre des Unterzeichners gut gelungen, umfassend und praktisch. Er kann sehr gut bei in der Verhandlung auftauchenden Fragen „munitionieren“.
Für den Unterzeichner neu war der Praxisteil. Im allgemeinen Abschnitt „Psychologie und Taktik der Zeugenvernehmung“ führt Dr. Gerst umfassend zur Herangehensweise und Erkenntnissen aus. Er gibt einem einen ganz guten Leitfaden (3 Säulen) an die Hand, um sich systematisch auf das Beweismittel Zeuge in der Hauptverhandlung vorzubereiten. Die erste Säule besteht aus der Vernehmungsvorbereitung und dem Vernehmungssetting. Die zweite Säule besteht aus den Vernehmungszielen und der Vernehmungsgestaltung im weiteren Sinne und die dritte Säule aus der Vernehmungsgestaltung im engeren Sinne. Er unterscheidet zunächst nach Erfassung der Akte zwischen unveränderlichen neutralen Fakten und unveränderlichen Kernfakten. Die unveränderlichen Kernfakten bestimmen die möglichen Theorien zum Fall, die mögliche Geschichte, die die Verteidigung präsentieren kann, und die Möglichkeiten der (aussichtsreichen) Vernehmung. Er unterscheidet weiter zwischen der Vernehmungsvorbereitung außerhalb der Hauptverhandlung (eigene Ermittlungen, Privatdetektiv, Internet und Informationen des Mandanten) und der Vernehmungsvorbereitung in laufender Hauptverhandlung (Zeugenbefragung durch andere Verfahrensbeteiligte, Dokumentation). Er weist auch darauf hin, dass der Verteidiger mit Zustimmung Aufnahmen für Verteidigungszwecke im Gerichtssaal machen darf (siehe Kommentierung zu § 169 GVG). Richtig lohnen wird sich die eigene (z. B.) Tonbandaufnahme aber nur, wenn zwischen der Befragung durch andere Verfahrensbeteiligte und der eigenen ein größerer zeitlicher Abstand liegt (dann verblasst die Erinnerung des Zeugen und die Dokumentation kann vorgehalten bzw. vom Verteidiger nochmals intensiv durchgearbeitet werden). Zu Säule 1 gehört noch das Setting. Hier geht es zum einen um optimale Vernehmungs- und Wahrnehmungszustände und zum anderen um die Positionierung gegenüber dem Zeugen (sogenannte „Nulllinie“). Bei der Nulllinie geht es um Fragen, wann man sich wie dem Zeugen gegenüber verhält (konsensuale Vernehmungsatmosphäre oder eine spürbar versachlichte, kühle oder beim Zeugen Druck und Stress auslösendes Positionieren). Zur Säule 2 gehört das Vernehmungsziel. Dr. Gerst unterscheidet hier zwischen dem übergeordneten Vernehmungsziel (im Strafprozess eigentlich immer nur Freispruch oder mildest mögliche Sanktion) und dem konkreten Vernehmungsziel (das, was man in der jeweiligen Vernehmung als Ziel erreichen will). Innerhalb des konkreten Vernehmungsziels unterscheidet Dr. Gerst zwischen der Herausarbeitung außerhalb des Zeugen liegender Sachverhalte (Wahrnehmungen, „äußere“ Lebenssachverhalte) und der Herausarbeitung von in der Person des Zeugen liegenden Sachverhalten (Herausarbeitung von körperlichen (Wahrnehmungs-)Defiziten des Zeugen permanent oder vorrübergehend, Beweggründe eines Zeugen für die Aussage).
Der zweite Unterbegriff der zweiten Säule ist die Vernehmungsgestaltung im weiteren Sinne. Hier geht es um den Grundriss des Befragungsgebäudes (z. B. nach dem chronologischen Ablauf des angeklagten Sachverhaltes, dem Ablauf der Vorbefragungen, nach für die Vermittlung der Geschichte der Verteidigung relevanten Themenkomplexe, eventuell nach dramaturgischen Gesichtspunkten oder tatsächlichen Notwendigkeiten). Dieser grobe Grundriss muss natürlich mit den Erkenntnissen aus der Hauptverhandlung ständig abgeglichen und gegebenenfalls verändert werden.
Die dritte und letzte Säule ist dann die Vernehmungsgestaltung im engeren Sinne. In diesem längeren Kapitel werden nun anhand vieler Zitate aus Zeugenvernehmungen die Frageformen, die Behandlung von Widerspruch gegen die Fragen, das Statement als Frage, die Fragmentierung entscheidender Sachverhalte, die Verwendung von „Schleifen“, der „durchgehende“ Zeuge, der sich nicht erinnern könnende Zeuge und der die Frage nicht beantwortende Zeuge behandelt. Kollege Dr. Gerst vermittelt hier auch Erkenntnisse aus der wesentlich intensiveren Vernehmungsforschung bzw. dem Vernehmungshandwerk in den USA (mit guten Literaturangaben). Insbesondere interessant (und teilweise neu) fand der Rezensent die vielen Beispiele aus stattgehabten Verhandlungen, die Hinweise zu Vernehmungsmöglichkeiten (Stichworte: Fragmentierung bzw. „Schleife“), die Handlungsmöglichkeiten beim „durchgehenden“ Zeugen und dem sich nicht erinnern-könnenden Zeugen.
Die einzelnen Sonderkapitel (siehe oben), wie z. B. Vernehmung von Berufszeugen, Kindern usw., fokussieren sich jeweils auf dieses Thema und geben hier wichtige, praktische und rechtliche Hinweise und eignen sich damit hervorragend zur Lektüre, sollte man ein solches Thema praktisch bearbeiten.
Zusammengefasst ein sehr gutes Kompendium, dass noch durch eine Literaturliste sowie viele Anmerkungen mit weiterer Literatur und einem Stichwortverzeichnis abgerundet wird.
Beckmesserisch: Der Unterzeichner hätte sich gefreut, wenn anhand eines Falles/Beispiels die theoretischen Erwägungen umgesetzt worden wären (z. B. auch mit Arbeitsbögen und dergleichen).
Alles in allem eine sehr gute Handreichung für Praktiker und in dieser Doppelgestalt, praktische Empfehlung/Kommentar, unverzichtbar.
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