Verteidigung tut not!
Zur Strafverteidigung in Europa aus Praktikersicht – ein Interview mit Rechtsanwalt Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht
Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht und seit 2001 als Anwalt zugelassen. Er wurde zum Thema „Die Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert“ promoviert. Er ist Herausgeber und Mitverfasser des äußerst praktisch-wichtigen Buches „Internationales Strafrecht. Auslieferung – Rechtshilfe – EGMR – Internationale Gerichtshöfe“, welches in der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ in der 2. Auflage, 2018, erschienen ist.
Das folgende Interview dreht sich vorwiegend um praktische Belange. Die Rechtsmaterien, die man unter „europäische Strafverteidigung“ packen könnte, werden ganz gut vom Untertitel des im vorstehenden Absatz zitierten Buches „Internationales Strafrecht“ zusammengefasst: Auslieferung, Rechtshilfe, EGMR und internationale Gerichtshöfe.
Thomas Röth: Was heißt für Sie, lieber Kollege Prof. Ahlbrecht, „europäische Strafverteidigung“?
Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht: Für mich ist das ganz simpel: Wenn mindestens zwei Strafverteidiger (selbstverständlich auch Strafverteidigerinnen) an einem Fall in Europa in ihren jeweiligen Ländern arbeiten, der Verfahrensbezug also transnational ist. Meistens braucht dann einer Support aus einer anderen Rechtsordnung.
Wie viel haben Sie selbst praktisch mit in diesem Sinne europäischer Strafverteidigung zu tun?
Ich mache ausschließlich Wirtschafts- und Steuerstrafrecht und auch Auslieferungen (da auch wegen anderer Delikte). Verfahren mit internationalen Bezügen machen bei mir ca. 40 % bis 50 % meiner Fälle aus.
Wie gehen Sie zu Beginn eines Mandates vor?
Nehmen wir zum Beispiel das Auslieferungsverfahren. Je nach Mandat wird dieses in der Regel angebahnt durch die Familien/den Ehegatten. Es gibt eventuell bereits einen Kollegen im ersuchenden Staat (der die Auslieferung aus Deutschland begehrt). Manchmal spielt auch noch ein dritter Staat eine Rolle (insbesondere, wenn Unternehmen beteiligt sind). Zunächst kläre ich die Mandatsgrundlagen (Auslieferung ist, wenn es komplex wird, zeitintensiv und kann mehr als 100 Stunden Zeitaufwand bedeuten). Wenn ich keinen Counterpart im anderen Staat habe, versuche ich zum Beispiel über die ECBA (= European Criminal Bar Association), dort jemanden zu finden. Dann schaue ich, dass möglichst schnell eine Kommunikation mit dem Kollegen klappt (z. B. durch eine sichere Cloud-Kommunikation). Das Auslieferungsmandat hat meistens nicht viel mit der eigentlichen Strafverteidigung gegen den Vorwurf selbst zu tun. Dies kann höchstens der Fall sein, wenn es sich um die falsche Person handelt oder wenn zum Beispiel der Auszuliefernde ein hartes Alibi für den Tatzeitraum hat. Die Aufgabe des Auslieferungs„verteidigers“ (formaljuristisch „Beistand“) ist eher konzentriert auf die Einhaltung der Verfahrensgarantien, des Fair-Trial-Grundsatzes, auf Probleme der beiderseitigen Strafbarkeit (ist das, was strafbar ist, in dem ersuchenden Staat auch im ersuchten strafbar; in der EU beispielsweise eher selten relevant) und auf die Haft- und Verfahrensbedingungen im ersuchenden Staat, an den der Mandant ausgeliefert werden soll.
Hier hat insbesondere die deutsche Strafverteidigung ja einiges erreichen können. Ich möchte nur hinweisen auf die Entscheidungen, die mittlerweile der EuGH zu den Haftbedingungen und dergleichen gefällt hat (s. die Entscheidungen des EuGH vom 15.11.2017 zum Az. C496/16, oder 15.10.2019 zum Az. C-128/18) zu wegweisenden Vorlagefragen der Hanseatischen Oberlandesgerichte Bremen und Hamburg (s. hierzu auch: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2019-criminal-detention-conditions-in-the-eu_en.pdf, es handelt sich um einen Bericht über die Haftbedingungen in Europa aus dem Dezember 2019 der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte). Als Mitglied der ECBA unterstützt die AG Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins die Vernetzung der deutschen Strafverteidiger mit europäischen und internationalen Strafverteidigern.
Ganz wichtig ist mir auch, genau zu wissen, was mit dem Mandanten passieren wird, wenn er ausgeliefert werden sollte. Ist er dann sofort unter anwaltlicher Betreuung und entsprechend geschützt? Hierauf muß der Mandant in Abstimmung mit dem ausländischen Kollegen vorbereitet werden, damit er ohne Anwalt nichts sagt (beispielsweise auch wenn sein Anwalt nicht rechtzeitig erscheint).
Was sind so die praktischen Probleme?
Schwierigkeiten bereitet es in europäischen Verteidigungssituationen, dass man selten ohne erheblichen Aufwand mit dem Häftling und dem Verteidiger des anderen Staates ein gemeinsames Gespräch führen kann. Ich hoffe, es wird durch die Erkenntnisse aus der Pandemie besser und einfacher möglich, eine Telefonkonferenz oder eine Videokonferenz mit dem Mandanten und dem Kollegen aus der JVA heraus zu führen.
Ein weiteres Problem ist die Verhältnismäßigkeit. Damit meine ich, dass nach Auslieferung in manchen ersuchenden Staaten eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls ohne Weiteres möglich ist, dem Mandanten während der Haft bis zur Auslieferung aber keine Außervollzugsetzung gewährt wird.
Ein weiteres Manko (zumindest in Deutschland) ist meines Erachtens der Rechtsschutz im Bereich der sonstigen Rechtshilfe. Wenn also die Bundesrepublik Ersuchen aus anderen Ländern vollstreckt, dann muss man oft kämpfen, um Akteneinsicht in den Rechtshilfevorgang als solchen zu bekommen.
Das vierte große praktische Problem ist die Informationsbeschaffung zum Verfahrensgang im ersuchenden Staat. Das EJN (= European Justice Network) stellt gute Informationen zur Verfügung, erlaubt aber Verteidigern keinen Zugriff darauf. Es steht bisher wohl ausschließlich für Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. Ansonsten muss man die Eigenarten jedes Strafrechtssystems in einem anderen europäischen Land, welches die Auslieferung beantragt, zu eruieren versuchen, um zu verstehen, was dort möglich ist oder eben nicht. So gibt es zum Beispiel Länder, in denen das Akteneinsichtsrecht wesentlich „schlechter“ als bei uns geregelt ist und gelebt wird. So gibt es auch Länder, in denen eine Telefonüberwachung der Verteidigung nicht unüblich ist. Darüber hinaus gibt es andere Länder, in denen es viel zu wenig Staatsanwälte bzw. Richter gibt, sodass eine Kommunikation, wie sie in großen Teilen in Deutschland möglich ist, dort nicht denkbar ist. Es ist auch interessant zu sehen, wie unterschiedliche Länder völlig unterschiedliche Rechtskulturen haben. Damit meine ich hier, welches Standing man der Strafverteidigung zubilligt und wie viel sie sich selbst zutraut.
Welche Informationsquellen gibt es denn (außerhalb von Kollegen im ersuchenden bzw. ersuchten Staat)?
Einerseits ist es sehr gut, dass sowohl der EuGH als auch der EGMR immer wieder mit guten Judikaten hervortreten. Andererseits gibt es, wie gesagt, die ECBA, die auf ihrer Homepage Informationen vorhält und helfen kann, Kontakte zu Strafverteidigern herzustellen.
Was würden Sie sich wünschen?
Es wäre wichtig, dass die 2020 von der ECBA vorgeschlagenen Procedural Safeguards umgesetzt werden (s. hierzu), damit EU-weit einheitliche Verteidigungs- und Beschuldigtenrechte gelten. Ganz grundsätzlich hielte ich die Verfahrensstandards des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für eine sehr gute Blaupause eines europäischen Strafprozessrechts. Ich fände es schließlich auch wichtig, dass in diesen schwierigen Fällen europäischer Strafverteidigung alle Länder ein angemessenes und real funktionierendes Pflichtverteidiger und -vergütungssystem hätten.
Lieber Herr Kollege Ahlbrecht: herzlichen Dank für das Gespräch!
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