„Wir haben derzeit einige Staaten in Europa, die ganz sicher keine lupenreinen Demokratien mehr sind“
Interview mit Dr. Ulf Buermeyer über der derzeitigen Stand der Verfassung in Europa
Artikel von Rechtsanwalt Thomas Röth im Berliner Anwaltsblatt November 2020
Dr. Ulf Buermeyer, LL. M. (Columbia), ist seit 2007 Richter des Landes Berlin und derzeit Richter am Landgericht. Er hat für den Verfassungsgerichtshof in Berlin gearbeitet und ist aktuell in der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung zuständig für das Projekt des Funkzellenabfragen-Transparenz-Systems. Er hat die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) mitgegründet, einen gemeinnützigen Verein, der sich mit strategisch geplanten Gerichtsverfahren für den Schutz von Grund- und Menschenrechten einsetzt. Wöchentlich publiziert er gemeinsam mit dem Journalisten Philip Banse den Podcast „Lage der Nation“.
Thomas Röth: Sehr geehrter Herr Dr. Buermeyer, warum sind Sie (Straf-)Richter geworden?
Dr. Ulf Buermeyer: Mir macht es Spaß, in einem Konfliktfeld zwischen Staat und Bürgern zu arbeiten und als Richter faire Lösungen zu suchen und hoffentlich auch zu finden.
Wie geht es der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF)?
Wir gehen im Herbst dieses Jahres in das sechste Jahr. Wir haben fast 3.000 Fördermitglieder und mittlerweile ein gutes Dutzend Mitarbeiter. Derzeit betreuen wir rund 30 Projekte.
Welche aktuellen Probleme sehen Sie im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland?
Im Staatsorganisationsrecht ist meiner Ansicht nach ein dringendes Problem die bessere Trennung der gesetzgeberischen Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Ich führe als Beispiel den Berliner Mietendeckel und die IT-Ausstattung an Schulen an. Es ist meiner Ansicht nach misslich, wenn die
„EDV in der Justiz: Hier kochen die Länder jeweils ihr eigenes Süppchen, und die 16 unterschiedlichen Vorstellungen müssen dann mühsam auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden“
Gesetzgebungskompetenzen nicht klar geregelt sind. So ist z. B. beim Berliner Mietendeckel die Frage der formellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes (Darf das Land Berlin überhaupt ein Mietendeckelgesetz erlassen?) die am meisten diskutierte – während es doch eigentlich materiell um die Frage gehen sollte, wie weit die Sozialpflichtigkeit des Eigentums reicht. Daher sollten die Kompetenzen klarer geregelt sein.
Natürlich gibt es Dinge, für die der kompetitive Föderalismus besser geeignet ist als ein Zentralismus. Andererseits sollte einiges besser zentral geregelt werden. Hier denke ich z. B. an bundeseinheitliche Vorschriften zur EDV in der Justiz: Hier kochen im Grundsatz die Länder jeweils ihr eigenes Süppchen, und die 16 unterschiedlichen Vorstellungen müssen dann mühsam in bundesweiten Koordinierungsrunden wieder auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Das ist mehr als ineffizient.
Was die Grundrechte anbelangt, sehe ich aktuell vor allem ein Problem im Umgang des Staates mit Meinungsäußerungen im Internet. Zwar sind gesetzlich bereits gewisse Grenzen gezogen, denken wir etwa an die Straftatbestände der Beleidigung, der Volksverhetzung oder der Billigung von Straftaten. Aber bei der Umsetzung in der Praxis, also insbesondere bei der Strafverfolgung im Netz, hapert es.
Ein weiteres Problem stellen die sogenannten Fake News dar. Bisher gingen viele ja davon aus, dass Falschinformationen sich im freien Spiel der Äußerungen von selbst erledigen würden, weil ihnen konsequent durch richtige Darstellung widersprochen wird. Der Staat war bei der Regulierung dieses Bereiches traditionell zu Recht äußerst zurückhaltend. Jetzt erleben wir aber, dass eine zu starke Zurückhaltung auch nicht richtig ist, wenn buchstäblich jeder im Internet selbst zur Nachrichten-Plattform werden kann – und damit eben auch zur Fake-News-Schleuder.
„Buchstäblich jeder kann im Internet selbst zur Nachrichten-Plattform werden kann – und damit zur Fake-News-Schleuder.“
Wie ist es derzeit Ihrer Ansicht nach um das Verhältnis deutsches Verfassungsrecht zum Europarecht bestellt?
Wir hatten ja vor kurzem die EZB-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die konnte ich nicht wirklich nachvollziehen. Das Verfassungsgericht hat ja nicht gesagt, dass die EZB für Anleihenkäufe gar nicht zuständig sei, sich also sein Handeln schlechthin nicht mehr im Rahmen der europäischen Verträge halte, was dann in der Tat ein Fall einer Ultra-vires-Entscheidung der EZB hätte sein können. Das Verfassungsgericht hat vielmehr die Auffassung vertreten, dass die Begründung für die Anleihenkäufe so defizitär gewesen sei, dass sie nicht mehr hinzunehmen sei. Das stieß zu Recht auf starke wissenschaftliche Kritik. Und am gravierendsten finde ich die Folgen für die Rechtsstaatlichkeit in der EU insgesamt: Die autoritären Staaten am Rande EU berufen sich nun natürlich gerne auf diese Entscheidung. Diese absehbaren Folgen hätte eines der anerkanntesten Verfassungsgerichte dieser Erde in den Blick nehmen müssen.
Ein weiteres Problem ist meiner Ansicht nach der Eingriff der EU in Freiheitsrechte der Bürger. Es gibt ja die Richtlinie zur PNR (= Passenger Name Records). Diese Richtlinie wurde von der Bundesrepublik umgesetzt. Es geht dabei um die Weiterleitung von Flugpassagiernamen an Sicherheitsbehörden. Das europäische Recht sieht ja keine europäische Verfassungsbeschwerde vor, sodass zunächst der nationale Rechtsschutzweg beschritten werden muss. Die GFF hat wegen des massiven Eingriffs der Richtlinie in die Datenschutzrechte sowohl vor dem Amtsgericht eine Airline als auch vor dem Verwaltungsgericht das Bundeskriminalamt (als nationale Stelle) verklagt. Gott sei Dank haben beide Gerichte die Sache dem EuGH vorgelegt und so den oft langen Rechtsweg abgekürzt.
Sehen Sie in Europa verfassungsrechtlichen Reformbedarf?
Nun, wir haben derzeit einige Staaten in Europa, die ganz sicher keine lupenreinen Demokratien mehr sind. Eine Demokratie zeichnet sich ja nicht nur durch eine geschriebene demokratische Verfassung aus, sondern auch durch eine gelebte demokratische Kultur. Eine geschriebene Verfassung lässt sich leicht durch eine undemokratische Handhabung der geschriebenen Regeln aushöhlen. Ein Beispiel hierfür ist das Court Packing (mehr linientreue Richter in das Verfassungsgericht) in Polen und die Angriffe auf die freie Presse zum Beispiel in Ungarn. Die EU hat dann ganz wenig Handhabe, um in diesen Ländern rechtsstaatliche Grundsätze wieder zur Geltung zu bringen. Die Länder haben weiterhin, insbesondere wenn es um Einstimmigkeitserfordernisse geht, viel Macht und können damit ihre undemokratischen Vorstellungen in vielen Fällen auch der EU-Außenpolitik aufzwängen.
„Grundrechte sind ja in der Praxis vorwiegend Minderheitenrechte“
Stichwort Verfassungspatriotismus?
Wir haben ja wie gesagt eine geschriebene Verfassung – und dann gibt es die ungeschriebenen Regeln der gelebten Verfassungskultur. Unter der Verfassungskultur verstehe ich zum Beispiel die grundsätzliche Übereinkunft, dass politische Gegnerschaft legitim ist, dass in einer Demokratie Macht auf Zeit verliehen und durch Wahlen ausgeübt wird. Undemokratisch wird es dementsprechend dann, wenn dem politischen Gegner die Legitimation per se aberkannt wird oder ein Machthaber erklärt, trotz einer verlorenen Wahl nicht abtreten zu wollen.
Ich habe den Eindruck, dass der Verfassungspatriotismus in Deutschland nach wie vor überwiegend gelebt wird. Die Angriffe bzw. Anfeindungen beschränken sich meiner Ansicht nach auf 5–10 % der Bevölkerung. Dieser Prozentsatz bleibt im Wesentlichen seit Jahren gleich, was die sogenannten „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung seit 2006 untermauern. Das heißt also, dass mindestens 90 % der Bevölkerung mit beiden Beinen auf dem Boden der Verfassung stehen.
Doch auch der parlamentarische Raum gibt mitunter Anlass zur Sorge. Hier wird bei Einschränkungen von Grundrechten oftmals ohne große Diskussion an die Grenzen dessen gegangen, was verfassungsrechtlich eben noch zulässig ist. Das verkennt, dass Grundrechte ja in der Praxis vorwiegend Minderheitenrechte sind.
Ein bisher wenig beachtetes, aber für die betroffenen Familien oftmals existenzielles Beispiel sind die geltenden Regelungen zu Adoptionen bei gleichgeschlechtlichen Ehepaaren: Auch wenn das Problem nur einige tausend Paare in Deutschland betreffen mag, so ist es doch nur schwer erträglich, dass die Ehefrau einer Mutter nicht ebenso selbstverständlich als Elternteil des Kindes eingetragen wird, wie es für den Ehemann der Mutter geltendes Recht ist. Stattdessen müssen die Ehefrauen den beschwerlichen Weg einer Adoption gehen und sehen sich nicht selten Schikanen konservativer Standesämter ausgesetzt.
Kurzer Exkurs zum deutschen Strafverfahren: Sehen Sie Reformbedarf?
Ich würde mir eine bessere Dokumentation der Hauptverhandlung wünschen. Hier würde ich mich den zahlreichen Vorschlägen anschließen, die eine Art „amtliches“ Wortprotokoll fordern, das letztlich alle Verfahrensbeteiligten vom Mitschreiben entlasten würde.
„Mich treibt die Frage um, inwieweit der Staat Verantwortung für die Cybersicherheit der Bürger trägt“
Zum Schluss: Mit welcher spannenden Frage beschäftigen Sie sich zur Zeit?
Immer wieder treibt mich derzeit die Frage um, inwieweit der Staat Verantwortung für die Cybersicherheit der Bürger trägt. Wir haben ja das Grundrecht der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, welches von der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts 2008 neu entwickelt wurde. Es ist zwar ursprünglich als Abwehrrecht ausgestaltet worden, aber die Frage stellt sich ja schon, ob nicht auch dieses Grundrecht eine objektivrechtliche Seite hat, die dem Staat hier eine Schutzpflicht auferlegt. Denn eines ist klar: Hier schöpft die Rechtsordnung bisher ihre Möglichkeiten keinesfalls aus. Beispielsweise könnten über erweiterte Haftungsregeln für unsichere Software stärkere Anreize für Hersteller gesetzt werden, um sicherere Systeme zu entwickeln.
Herr Dr. Buermeyer, vielen lieben Dank für dieses Gespräch.
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