Die Europäische Staatsanwaltschaft – Gespräch in Berlin
On a dark desert highway: mit viel „European spirit“
Interview mit Oberstaatsanwältin Annegret Ritter-Victor und Oberstaatsanwalt Tobias Lübbert, beide Delegierte Europäische Staatsanwälte (DEStA) in Berlin, und Rechtsanwältin Dr. Anna Oehmichen sowie Rechtsanwalt Thomas Röth.
Geführt am 23.02.2022 in dem Büro von Annegret Ritter-Victor.
Folgendes konnten wir – nach Schlagworten chronologisch geordnet – in Erfahrung bringen: Die Berliner Dependance der Delegierten Europäischen Staatsanwälte in Deutschland sitzt bei der Staatsanwaltschaft in der Turmstraße 22. Sie besteht derzeit aus zwei Delegierten Europäischen Staatsanwälten und zwei Mitarbeiterinnen, die die Geschäftsstelle besetzen. Berlin ist in der Regel zuständig für Fälle, die sich in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Berlin vollziehen.
Berliner Anwaltsblatt: Die EuStA ist jetzt seit Juni 2021 tätig. Von welchen ersten praktischen Erfahrungen können Sie uns berichten?
Annegret Ritter-Victor und Tobias Lübbert: Am Anfang waren die IT-Ausstattung und die Vernetzung der Zentren untereinander und mit der Zentrale in Luxemburg eine besondere Herausforderung. Die Berliner Delegierten Europäischen Staatsanwälte müssen nämlich drei verschiedene Systeme bedienen. Zum einen das System mit der Zentrale der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg (EU-System), zum anderen haben sie wegen des Datenschutzes und weil sie keine Berliner Staatsanwälte mehr sind, die Berliner IT-Anwendungen nur in „abgespeckter“ Form zur Verfügung und zum dritten haben sie ein gemeinsames System mit den anderen deutschen Standorten.
Die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin hat den Delegierten Europäischen Staatsanwälten beim Aufbau des Zentrums gut unter die Arme gegriffen. So konnten beide über die Generalstaatsanwaltschaft bei der Auswahl der Besetzung der Geschäftsstelle mit dabei sein. Es gibt nun zwei 0,75-Kräfte, die beide über gute Englischkenntnisse wegen längerer Auslandsaufenthalte verfügen.
Wie kommt es zur Einleitung eines Verfahrens?
Die meisten Anfangsverdachtsmomente, die zu einer Einleitung eines Verfahrens führen, stammen bisher von Ermittlungsbehörden (Steuerfahndung, Zoll, LKA, BKA …). Behörden müssen uns Fälle, die in die Zuständigkeit der EUStA fallen, vorlegen. Aber viele haben noch nicht mitbekommen, dass es uns gibt. Es gibt unzählige Behörden, die da in Betracht kommen; z. B. hat jedes Bezirksamt, jede Universität mit EU-Subventionen zu tun. Daneben sind die Staatsanwaltschaften zur Vorlage von Ermittlungsverfahren verpflichtet, die in den Zuständigkeitsbereich der EUStA fallen können.
Es ist in der Regel so, dass ein Delegierter Europäischer Staatsanwalt für das Verfahren (auch länderübergreifend) zuständig sein wird. Die Berliner Delegierten Europäischen Staatsanwälte beantragen z. B. einen Durchsuchungsbeschluss beim AG Tiergarten (im Ermittlungsverfahren liegt die Zuständigkeit für das Gericht immer am Sitz des jeweiligen Delegierten Europäischen Staatsanwalts, der das Verfahren betreibt). Soll in einem anderen der 22 teilnehmenden Mitgliedstaaten der EUStA durchsucht werden, wird auf Grundlage des richterlichen Beschlusses aus Moabit nach Art. 31 der EUStA-Verordnung dies im anderen Land durch den dortigen unterstützenden DEStA umgesetzt, also ein Beschluss des dortigen Gerichts beantragt und ggf. vollstreckt. Hier gibt es noch keine Einheitlichkeit, jedes Land hat da andere Vorgaben, welche Informationen für einen entsprechenden Gerichtsbeschluss noch erforderlich sind. In den nicht an der EUStA teilnehmenden EU-Staaten wird wie gewöhnlich die Europäische Ermittlungsanordnung angewandt.
Die Ständige Kammer in Luxemburg entscheidet z. B. über einen Jurisdiktionswechsel, der möglich ist, wenn dies „im allgemeinen Interesse der Rechtspflege“ liegt und weitere territoriale Zuständigkeitskriterien erfüllt sind. Anhörungen des Beschuldigten oder seiner Verteidiger vor Entscheidungen der Ständigen Kammern sind in der Verordnung nicht vorgesehen und aus Sicht der Delegierten Europäischen Staatsanwälte auch nicht erforderlich, da dies eine interne Angelegenheit ist. Nur die Ergebnisse werden in den Ermittlungsakten stehen. Eine Verhandlung vor der Ständigen Kammer ist ebenfalls nicht vorgesehen, auch die Delegierten Europäischen Staatsanwälte können lediglich eine Gegenvorstellung erheben, wenn die Entscheidung der Kammer von ihrem Vorschlag abweicht. Gegen eine solche Kammer-Entscheidung kann ggf. der Rechtsweg vor den nationalen Gerichten beschritten werden.
Wie muss man sich den Gang eines Verfahrens bei der EuStA vorstellen?
Die Delegierten Europäischen Staatsanwälte (DEStA) sind nur der EUStA weisungsunterworfen, keinen nationalen Behörden. Die Kommunikation zwischen EUStA und DEStA ist in der Regel intern und wird in der Ermittlungsakte nicht dokumentiert, vergleichbar mit dem Berichtsweg zwischen Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft. Wenn die Ständige Kammer in Luxemburg z. B. über das Einleiten eines Verfahrens, die Übernahme eines Verfahrens oder den Ort der Anklage zu entscheiden hat, werden alle Akten digital in einem sog. Fallbearbeitungssystem (FBS oder Case Management System – CMS) hochgeladen, gemeinsam mit zusammenfassenden Berichten in englischer Sprache der ermittelnden DEStAs. Der jeweils nationale Europäische Staatsanwalt in Luxemburg (für Deutschland ist das Andrés Ritter) trägt dann die Sache der Ständigen Kammer vor, ist aber selbst nicht Mitglied der Kammer. Bisher sind Sachstandsberichte zu unseren Verfahren an die Ständige Kammer immer mit Augenmaß angefordert worden, so dass wir auch noch Zeit hatten, Neues zu ermitteln. Eine Kontrolle jedes einzelnen Ermittlungsschrittes durch Luxemburg gibt es nicht. Lingua franca dort ist Englisch (ganz gelegentlich auch Französisch). Wir kommunizieren täglich mit der Zentrale in Luxemburg, z. B. dem legal service, Mitarbeitern der Ständigen Kammern und dem deutschen Europäischen Staatsanwalt. Leider konnten wir wegen Corona noch nicht alle zusammenkommen, hoffen aber, dass das alsbald mal möglich sein wird.
Da die DEStAe in den verschiedenen Mitgliedstaaten nach außen auftreten, müssen die einschlägigen Rechtsbegriffe der EUStA-VO auch einigermaßen von allen gleich angewandt werden. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Rechtsabteilung in Luxemburg, die dann zu bestimmten Themen Stellung nimmt, meist nur intern. Entscheidungen des Kollegiums der Europäischen Staatsanwälte werden aber veröffentlicht. Am Ende werden Auslegungsfragen ggf. vom EuGH geklärt werden müssen.
Wie erfolgt die Besetzung der DEStA-Stellen?
Die Ausschreibung für die DEStA-Stellen in Deutschland war sehr kurzfristig und die Bedingungen waren teilweise noch unklar. Weil auch die Kriterien hoch angesetzt waren (OStA, internationale Erfahrung, sehr gute Englisch- und Französischkenntnisse), haben sich damals nicht so viele beworben. Eine Amtszeit dauert fünf Jahre für die DEStAe und ist erneuerbar. Was zu einem Problem werden könnte, sind die Hauptverhandlungstage. Wir sind in Berlin nur zu zweit. Wenn da ein Verfahren z. B. in Mühlhausen in Thüringen und eines in Magdeburg in Sachsen-Anhalt wäre, dann wären wir in der Regel mindestens jeweils zwei Arbeitstage pro Woche unterwegs.
Wie finanziert sich die EuStA und wie die DEuStA?
Aus EU-Mitteln wird direkt die Europäische Staatsanwaltschaft am Sitz in Luxemburg finanziert. Ebenso finanziert die EU die Gehälter der Delegierten Europäischen Staatsanwälte. Es geht hier allerdings nur um die laufenden Gehälter. Um die Krankenversicherung, die Pensionsansprüche usw. kümmert sich in unserem Fall das Land Berlin. Noch nicht endgültig entschieden ist die innerdeutsche Aufteilung der anderen Kosten (Büro, Personal und Kosten der Ermittlungsbehörden etc.). Verfahrenskosten können nach dem JVEG abgerechnet werden. Im Übrigen sollen die Länder und der Bund einen Ausgleich finden. Ein weiteres Problem ist das Gewinnen von Kräften für die Ermittlungsarbeit (Polizei, Kriminaltechnik, Steuer- und Zollfahndung etc.), da die EUStA keine eigenen Ermittlungsbeamten hat. Wir konkurrieren sozusagen mit den nationalen Staatsanwaltschaften um die Ermittler. Sofern wir bei den Ermittlungen die Unterstützungen von Wirtschaftsreferenten oder Rechtspflegern benötigen, unterstützen uns die nationalen Staatsanwaltschaften im Wege der Amtshilfe. Dies funktioniert hier am Standort Berlin sehr gut. Zu Anfang hatte die Europäische Kommission noch die Verantwortung für viele Entscheidungen, jetzt ist es zunehmend die Europäische Staatsanwaltschaft selbst. Zurzeit gibt es ca. 100 Delegierte Europäische Staatsanwälte, vorgesehen sind 140 Stellen.
Wie werden die Akten geführt?
Was ist alles Gegenstand der Akteneinsicht? Derzeit werden von den beiden in Berlin beheimateten Delegierten Europäischen Staatsanwälten die Akten papieren und als Doppel digital geführt. Die Aktenführung richtet sich grundsätzlich nach dem nationalen Verfahrensrecht. Die EuStA führt sie intern digital. Für Berlin hoffen wir, dass alsbald eine Kommunikation über das EGVP und damit beA möglich sein wird. Die Akten werden bei dem zuständigen Zentrum geführt und insb. bei Vorlagen an die Zentrale dort hochgeladen und können automatisch ins Englische übersetzt werden. Die zunächst in der Akte sich findende Sprache ist die der nationalen DEStA. An die Zentrale muss in regelmäßigen Abständen über den Stand der Ermittlungen auf Englisch schriftlich berichtet werden. Es gibt auch eigene Aktendeckel (blau und rosa, s. Fotos).
Die Akteneinsicht bestimmt sich nach dem Recht des Landes, in dem das Verfahren geführt wird, in Deutschland also nach § 147 StPO.
Sie sind mit 100 % als Delegierte Europäische Staatsanwälte tätig. Sind Sie durch diese Tätigkeit ausgelastet?
Wir hier in Berlin sind derzeit ausgelastet. Es geht vorwiegend um Umsatzsteuer-Karusselle. Momentan bearbeitet die Europäische Staatsanwaltschaft in Berlin rund 30 Verfahren. Die Schadenssumme der rund 130 deutschen Fälle beläuft sich auf knapp 1 Milliarde Euro. Auch sind wir immer noch mit zahlreichen Verwaltungsaufgaben (= Abstimmungen mit Behörden, IT-Fragen, Weiterentwicklung von Organisationsabläufen etc.) beschäftigt.
Eine grenzüberschreitende Koordinierung der Ermittlungsmaßnahmen findet in der Regel z. B. bei sog. „Action Days“ (also größeren Einsätzen, z. B. Durchsuchungen bei mehreren Personen in verschiedenen Ländern) statt. Das klappt besser als bei herkömmlichen Verfahren, weil man die Kollegen der EUStA schon kennt, auch wenn persönliche Treffen wegen Corona bisher noch eingeschränkt waren.
Können Verfahren eigentlich auch eingestellt werden, etwa unter Opportunitätsgesichtspunkten gem. §§ 153 ff StPO?
Welche Einstellungen nach Opportunitätserwägungen möglich sind, ist nach der Verordnung nicht ganz klar, da die VO grundsätzlich eigene Einstellungsgründe enthält. Eine Einstellung gemäß § 153a StPO ist in jedem Verfahrensstadium möglich. § 154 StPO ist in anderen Rechtssystemen nicht bekannt, nach unserem Verständnis der Verordnung ist dessen Anwendung jedoch zulässig.
Bekommen Sie Unterstützung aus Luxemburg, bspw. bei der Auswertung von Finanzdaten?
Bei der Koordinierung der Action Days ist das der Fall; Die Mitarbeiter in Luxemburg können darüber hinaus auch bei anderen Aufgaben unterstützend tätig werden.
Die in einem Ermittlungsverfahren anfallenden Auswertungsarbeiten sind häufig ein Problem, weil oft zu wenig Personal vorhanden ist (z. B. Steuerfahnder bei USt-Karussellen). So können Mitarbeiter in Luxemburg als sog. case support officers bei der Auswertung umfangreicher Daten auch in verschiedenen Sprachen mitwirken. Sie dürfen allerdings keine Zwangsmaßnahmen ergreifen. Die praktische Zusammenarbeit mit OLAF gibt es. Sie gestaltet sich aber nicht immer einfach, weil sich die Verfahrensabläufe bei OLAF an eigenen verwaltungsrechtlichen Erfordernissen orientieren Bei der Durchführung von strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen besteht daher besonderer Abstimmungsbedarf.
Wem fließt eigentlich das abgeschöpfte Vermögen zu in EUStA-Verfahren?
Im Regelfall werden eingezogene Gelder den jeweils Geschädigten zufließen, also z. B. dem Steuerfiskus oder den Subventionsgebern. Darüber hinaus wird derzeit an einer Vereinbarung der Bundesländer gearbeitet, die u. a. klären soll, welchem bzw. welchen Bundesländern eingezogenes Vermögen zufällt.
Spielt Datenschutz eine Rolle?
Dieser ist in der Verordnung direkt geregelt und wird sehr ernst genommen. Wenn eine bzw. ein DEStA in Urlaub gehen will, dann muss der Zugang zu den Akten für deren bzw. dessen Vertreter/in mit der IT-Abteilung erst besprochen werden. Einen direkten Zugriff auf Datenbanken von Europol, Olaf oder Eurojust haben die DEStA bisher nicht.
Die EUStA-Verordnung regelt keine einheitlichen Verteidigungsrechte, sondern beruft sich auf die „in nationales Recht umgesetzten“ EU-Richtlinien. Aber wir wissen, dass diese nicht vollständig und nicht einheitlich in allen Mitgliedstaaten umgesetzt wurden. Wie geht die EUStA mit diesem Thema um? Sind die Verteidigungsrechte schon konkreter reglementiert worden oder gibt es hierfür konkrete Planungen?
Interne Richtlinien der EUStA zum Umgang mit Verteidigungsrechten, die in den Mitgliedstaaten teilweise unterschiedlich sind, gibt es bisher nicht. Derzeit ist da wohl nichts geplant.
Was ist Ihr Fazit zu Ihrer bisherigen Tätigkeit in der neuen Institution?
Es macht großen Spaß, für diese neue Institution tätig zu sein. Der Aufbau einer so im Strafprozess noch nie dagewesenen hybriden Behördenstruktur ist aber auch eine Herausforderung. Es wird eng zusammengearbeitet zwischen den DEStAen der verschiedenen Länder. Man bekommt auch mit, dass andere Länder sehr gut aufgestellt sind und beispielsweise viel weiter mit der Digitalisierung sind als Deutschland. Auch strafprozessuale Dinge werden in anderen Ländern teilweise anders geregelt als hier. Durch die direkte Zusammenarbeit könnte sich eine „best practice“ herausstellen, die dann Grundlage für weitere Harmonisierung werden kann. Grundsätzlich muss aber der Grundsatz des locus regit actum angewandt werden.
Es ist insbesondere bei länderübergreifenden Umsatzsteuerkarussellen die Verfolgung besser möglich geworden. Die EUStA ermöglicht es, effizient über Grenzen hinweg zu ermitteln, ohne die üblichen Rechtshilfe-Probleme.
Liebe Frau Ritter-Victor, lieber Herr Lübbert: Wir danken recht herzlich für dieses sehr informative und angenehme Gespräch.
Dr. Anna Oehmichen, Rechtsanwältin, Oehmichen International
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