Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung
Rezension des Sachbuchs von Prof. Dirk Labudde mit Heike Vowinkel
erschienen im April 2022 / 236 Seiten / 16,99 Euro Bastei Lübbe Verlag, ISBN 978-3-431-05032-5
Prof. Labudde ist Physiker, Bioinformatiker und Professor an der Hochschule Mittweida, University of Applied Sciences, in Sachsen. Er hat 2014 den Studiengang Digitale Forensik an der Hochschule Mittweida gegründet. Seitdem ist er mit seinem Lehrstuhl als Sachverständiger und Berater für die digitale Forensik für Ermittler, Staatsanwälte und Gerichte tätig.
In diesem Buch gibt er anschaulich und fallbezogen Einblick in seine Arbeit und fasst in Exkurskapiteln den Stand der Kenntnisse zur digitalen Tatrekonstruktion, zur Foto- und Videoanalyse und zur Gesichtsrekonstruktion zusammen.
Im letzten Kapitel äußert er sich zur Zukunft der digitalen Forensik und dazu, wie sich die Strafverfolgung insoweit ändern sollte.
Im ersten Kapitel erzählt der Autor anhand einer digitalen Fallrekonstruktion an der Steilküste in Lloret de Mar über seinen Werdegang, seinen Beginn der Beschäftigung mit der digitalen Forensik an der Hochschule Mittweida. Er äußert sich zu Spuren, deren Analyse zur Aufklärung von Straftaten beitragen, und am Schluss zu digitalen Spuren bzw. digitalen Methoden. Er weist dabei darauf hin, dass es nicht nur um digitale Taten und Orte geht, sogenannte Cybercrimedelikte, sondern digitale Methoden auch helfen können, die Spurenlage analoger Tatorte besser zu systematisieren. Hiermit sind getreue 3-D-Modelle gemeint, mittels deren Erstellung Spuren in diese Modelle übertragen und überprüft und Tatabläufe darin simuliert werden können. Ebenso lassen sich Fotos und Videos mit digitalen Werkzeugen verbessern und genauer auswerten. Menschen könnten allein anhand ihrer Anatomien in Überwachungsvideos identifiziert werden und ein Schädel kann genügen, um mit digitalen Methoden Gesichter unbekannter Toter im 3-D-Modell zu rekonstruieren.
Er befasst sich dann in den Kapiteln 2 bis 5 mit Fällen, in denen er eine Tatortrekonstruktion im 3-D-Modell nachbaute und mittels der Erkenntnisse versuchte, mögliche Tatabläufe durchzuspielen, um über die Möglichkeit des Tatgeschehens Aussagen treffen zu können. Bei den Fällen handelt es sich um das tote Mädchen unter der Teufelstalbrücke, den Mord im Parkhaus in München, einen Fall in Leipzig (Kopfschuss nach Streit um Drogengeld) und ein historisches Kapitel, nämlich das Foto eines toten Soldaten und die Todesursache (zwei Fotos vom 4. April 1954 aus dem Dorf Oberdorla bei Mühlhausen in Thüringen).
Das Unterthema Digitale Tatortrekonstruktion wird mit einem Exkurs zur Zukunft derselben abgeschlossen. Er geht davon aus, dass in Zukunft von Anfang an Tatorte und insb. Opfer digital erfasst werden, dass Virtopsien (digitale Rekonstruktion durch Körperscans, Photogrammmetrie, Mehrschichten- und Computertomografie, Kernspin, bzw. Magnet-Resonanz-Tomografie, also eine virtuelle Autopsie) in Zukunft üblich werden. Auch Rettungssanitäter, die an einen Tatort gerufen werden, werden mit entsprechenden Bodykameras ausgestattet sein.
Der Autor nimmt auch an, dass Zeugen in Zukunft ihre Zeugenaussagen in einem nachgebauten Tatort mit VR-Brillen durchspielen, indem sie diesen begehen können. Ebenso werden die digitalen Spuren, die jeder hinterlässt, gesammelt werden durch ein digitales Forensiklabor. Er weist auch auf die manipulativen Möglichkeiten eines 3-D-Nachbaus hin, allein durch die visuelle Überzeugungskraft desselben. Denn ein solches Modell hängt von der Eingabe der Informationen ab, die nicht korrekt sein können oder nicht ausreichend digital erfasst oder falsch interpretiert wurden.
Das nächste Unterthema ist die Identifizierung durch Foto- oder Videoanalyse und wird anhand von drei Fällen in drei Kapiteln erläutert. Zum einen ein Mordfall zwischen Rockergangs in Leipzig, zum anderen ein Goldmünzenfall in Berlin, zuletzt ein Tankstellenraub bei Chemnitz. Der Exkurs danach zu dieser Art der digitalen Forensik beschließt das Thema. Im Leipziger Rockerfall hatte er eine 36,33 Sekunden dauernde Aufnahme von einem Mobiltelefon, die genauestens ausgewertet wurde, um aus zwei aufeinander zulaufenden Rockergruppen herauszudestillieren, wer wann wo wie geschossen oder geprügelt haben könnte. Es wird das Problem des Einsatzes von intelligenter Software und ihrer Verwertbarkeit vor Gericht besprochen. Der Goldmünzenfall aus Berlin und der Tankstellenraubfall aus Chemnitz befassen sich mit dem Thema Auswertung von Videomaterial und der möglichen Identifizierung der auf dem Video abgebildeten Personen und Beschuldigten. Die realen Orte werden genauestens vermessen, ein detailgenaues 3-D-Modell erstellt, und von den Beschuldigten werden digitale Zwillinge erstellt. Die digitalen Zwillinge der konkret Beschuldigten werden in das Modell hineingesetzt und man kann eventuell durch das Überdecken der ursprünglichen Videopersonen mit den digitalen Zwillingen einen Ausschluss oder eine Identifizierung vornehmen. Im Goldmünzenraub gelang es Prof. Labudde nicht, das Gericht von dieser Methode zu überzeugen. Im Tankstellenraub soll dies nunmehr anders sein und er deutet an, dass mit dieser Methode eine eindeutige Identifizierbarkeit mittels passgenauer Rigs (digitaler, genauer nachgemessener Skelette) und der Gangart möglich sein soll.
Er geht die Zukunft betreffend davon aus, dass die bisher etwas mühsame photogrammetrische Vermessung wesentlich schneller erfolgen wird und eventuell eine Rigdatei so ähnlich wie eine DNA- oder Fingerabdruck-Datei möglich sein könnte.
Er geht auch davon aus, dass in Zukunft Kameras hologrammfähig sein werden, also von Anfang an 3-D statt 2-D-Aufnahmen möglich sind. Auf die Möglichkeit dann größerer deep fakes, also Fälschungen, und die Probleme mit dem Datenschutz bei umfassend eingesetzten intelligenten Gesichtserkennungssoftwaresystemen sowie die Probleme mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz weist er hin.
Im letzten Unterthema befasst er sich anhand von zwei Fällen mit der digitalen Gesichtsrekonstruktion und führt sehr gut dazu aus, was alles bereits möglich ist und welchen Schwankungsbreiten diese Visualisierung von Gesichtern nur anhand von Schädeln bzw. Schädelfragmenten unterliegt. Im Schlusskapitel fordert Prof. Labudde, dass digitale Forensiker von Anfang an auch am Tatort mit eingesetzt werden anstatt ihnen später in der Kriminaltechnologie nur Daten zur Auswertung zu geben, denn nur so können mittels findiger digitaler IT-Forensiker auch Spuren gesichert werden, an die sonst vielleicht vor Ort niemand denkt. Dazu bedarf es dringend einer wirklich guten IT-Forensiker-Grundausbildung, sei es der Polizisten und Polizistinnen, sei es der IT-Forensiker, was die Polizeiarbeit anbelangt, und einer sinnvollen Verzahnung beider Bereiche. Daneben weist er auf Defizite in der Ausstattung hin.
Insgesamt ein spannend und anschaulich geschriebenes Buch mit guten Einblicken in die Praxis und Zukunft der digitalen Forensik, das sich neben den beschriebenen Hauptthemen auch Nebenthemen wie Umgang mit Sachverständigen vor Gericht, Sprache vor Gericht, kriminalistischen Ideen und den Gefährdungen durch die digitalen Möglichkeiten beschäftigt.
Am 18. Januar 2023 wird der Arbeitskreis Strafrecht des Berliner Anwaltsvereins mit Herrn Prof. Labudde über sein Buch „Digitale Forensik“ sprechen, er wird daraus vorlesen und am Ende soll eine Diskussion über den Zustand und die Zukunft der (digitalen) Forensik stattfinden.
Weitere Information zur Veranstaltung finden Sie unter: https://berliner-anwaltsverein.de/de/veranstaltungen
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