Strafrecht & Rechtspsychologie: Was ist Wahrheit?
Ein Gespräch mit der Berliner Rechtspsychologin Frau Prof. Dr. Renate Volbert u. a. über ihre derzeitigen Forschungen
Frau Prof. Dr. Renate Volbert ist seit Jahrzehnten in der Rechtspsychologie tätig und insbesondere für ihre Forschungen und Gutachten zur Aussagepsychologie bekannt. Sie arbeitet seit 1984 am Institut für Forensische Psychiatrie, seit 2015 auch an der Psychologischen Hochschule Berlin und ist bundesweit als Gutachterin, insbesondere für aussagepsychologische Gutachten tätig (zum Leben und ihren Veröffentlichungen)
Röth: Wie kamen Sie zur Psychologie/Rechtspsychologie?
Prof. Dr. Volbert: Mich hat schon früh interessiert, wie sich Menschen verhalten und was sie bewegt. Ich habe Psychologie in Bielefeld studiert. Dort gab es damals eine Sozialpsychologin, die auch einige rechtspsychologische Lehrveranstaltungen anbot, das hat mein rechtspsychologisches Interesse geweckt. Kurz nach meinem Diplom kam Professor Lösel nach Bielefeld, bei dem ich dann gearbeitet habe. Es ging damals um die Vorbereitung einer Metaanalyse zur Effektivität von Sozialtherapie im Strafvollzug. Am 01.01.1984 habe ich schließlich am Institut für Forensische Psychiatrie in Berlin zu arbeiten begonnen und habe mich zunächst mit Kriminalitätsentstehung und Gefährlichkeitsprognosen beschäftigt. Ende der 80er Jahre kam Prof. Steller ins Institut und durch die Zusammenarbeit mit ihm habe ich mich vermehrt mit Aussagepsychologie und insbesondere mit dem Thema Suggestion befasst. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist in meinen Augen ein sehr spannendes Thema. Es gibt ein „richtig“ und ein „falsch“, und ich will natürlich schon wissen, wie es wirklich ist. In der Praxis fehlen ja oft verlässliche Außenkriterien, um das zu beurteilen; deswegen führen wir Simulationsuntersuchungen durch, in denen bekannt ist, welche Aussagen wahr und welche unwahr sind, so dass wir prüfen können, mit welchen Methoden wir zwischen beiden Kategorien von Aussagen unterscheiden können. Durch die Forschung der letzten 30 Jahre sind z. B. suggestive Wirkmechanismen wesentlich klarer geworden, was zur besseren Differenzierung zwischen erlebnisbasierten und nicht erlebnisbasierten Aussagen beigetragen hat.
Womit beschäftigen Sie sich derzeit?
Ich beschäftige mich derzeit damit, ob die systematische Einbeziehung von Persönlichkeitsmerkmalen die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung verbessert. In Bezug auf Glaubhaftigkeitsbegutachtungen ist zwar schon immer formuliert worden, dass individuelle Kompetenzen, Wissensbestände und Persönlichkeitsmerkmale für die Beurteilung der Aussagequalität zu berücksichtigen sind. Allerdings ist das bislang vergleichsweise wenig konkretisiert worden. Wir prüfen derzeit, wie sich die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und den unterschiedlichen Aufgabenanforderungen darstellen, die sich bei wahren bzw. bei erfundenen Aussagen im forensischen Kontext ergeben. Dabei geht es einerseits um die Aussage selbst, die entweder erinnert oder konstruiert werden muss; zum anderen um den Aspekt der Vermittlung der Aussage, wobei es sich entweder um eine wahre oder um eine täuschende Kommunikation handelt. Hohe Psychopathiewerte sind vielleicht hilfreich für den kommunikativen Aspekt einer Täuschung, spielen aber für den Konstruktionsaspekt vielleicht keine Rolle; soziale Ängstlichkeit kann sich bei einer Vermittlung einer Aussage möglicherweise unabhängig vom Wahrheitsstatus einer Aussage generell negativ auswirken, hat aber vielleicht auch wiederum keine Bedeutung für den Konstruktionsaspekt. Und so gibt es eine Reihe von Merkmalen, die potentiell von Bedeutung sind.
Außerdem beschäftige mich mit dem Thema „falsche Geständnisse“. Wenn man Suggestionsbedingungen kennt, kann man nachvollziehen, unter welchen Befragungseinflüssen es zu falschen Geständnissen kommen kann, obwohl es ja zunächst völlig fernliegend erscheint, dass jemand ein falsches Geständnis ablegt.
Zur Vernehmung und zum Aussageverhalten von Beschuldigten gibt es in Deutschland insgesamt wenig Forschung. So weiß man wenig darüber, wie häufig und unter welchen Umständen Beschuldigte von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen, gestehen oder einen Vorwurf bestreiten. Es gibt auch wenig Diskussion darüber, dass trotz Schweigerechts des Beschuldigten von der Polizei doch erwartet wird, Informationen zu beschaffen, was ja nur gelingt, wenn ein Beschuldigter sich einlässt. Ein rein informationssammelnder Vernehmungsansatz, wie ihn das international sehr einflussreiche englische PEACE-Modell bietet, wird deswegen von Polizeibeamten oft als nicht so hilfreich erlebt, weil er nur bei an sich schon aussagebereiten Beschuldigten eingesetzt werden kann. Polizeibeamte äußern deswegen nicht selten den vor diesem Hintergrund nachvollziehbaren Wunsch nach motivierenden Techniken. Allerdings stellt sich meines Erachtens schon die Frage, ob die Polizei Beschuldigte wirklich motivieren soll, ein Beschuldigtenrecht nicht wahrzunehmen. Zudem sind die Grenzen zwischen aussagemotivierenden und geständnismotivierenden Techniken zuweilen fließend. Das englische PEACE-Modell verzichtet explizit auf geständnismotivierende Techniken, weil diese unter ungünstigen Umständen (vulnerable Beschuldigte, unklare Beweislage) falsche Geständnisse befördern können, wenn der Verdacht auf einen Unschuldigen gefallen ist. Das Problem ist, dass dieselben Strategien durchaus erfolgreich sein können, wenn der Beschuldigte der tatsächliche Täter ist – er ergibt sich ja aus logischen Gründen, dass bei dieser Konstellation nur wahre und keine falschen Geständnisse erzielt werden können –, was den Verzicht auf solche Techniken schwer macht. Vernehmungen, die am Ende zu einem wahren oder zu einem falschen Geständnis führen, müssen sich deswegen gar nicht zwingend in der Art der Vernehmung unterscheiden, sondern möglicherweise lediglich in dem banalen Umstand, ob der Verdacht auf eine objektiv schuldige oder eine objektiv unschuldige Person gefallen ist. Bei der Beschäftigung mit Vernehmungen haben wir es in der Praxis mit dem Problem zu tun, dass Aussagen oftmals nur unzureichend dokumentiert sind.
Wie ist denn Ihre Erfahrung mit Dokumentationen?
In einigen Bundesländern gibt es zumindest bei Kindervernehmungen regelmäßig Videoaufzeichnungen; ansonsten habe ich sehr unterschiedliche Arten von Protokollierungen gesehen, von Transkripten von Videoaufnahmen bis zu zusammenfassenden Ergebnisprotokollen. Wenn es um die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage geht, ist es problematisch, wenn es kein Wortprotokoll gibt, weil unter aussagepsychologischer Perspektive relevante Informationen wie nebensächliche Details, spontane Selbstkorrekturen u. Ä. oft fehlen und weil nicht immer erkennbar ist, inwieweit eine Angabe nur eine Reaktionen auf einen inhaltlichen Vorhalt in einer Frage darstellt. Hierzu gibt es systematische Forschung: Wenn es keine Audioaufnahme gibt, fallen in nachträglich erstellten Protokollen viele Informationen weg und Fragen werden als offener angegeben, als sie tatsächlich gestellt wurden. In einigen Fällen habe ich sogar Videoaufnahmen gesehen, die sowohl die Vernehmung als auch das Diktat des Protokolls zeigten. Aus denen ergab sich auch, dass Fragen im schriftlichen Protokoll teilweise andere waren als die ursprünglich gestellten.
Oft wird argumentiert, eine Vernehmung könne deswegen nicht aufgenommen werden, weil die aufwändige Transkription nicht geleistet werden könne und es keine Abweichung des Protokolls von einer Aufnahme geben dürfe. Dieses Argument wundert mich immer, weil es ja impliziert, dass ein Protokoll nicht von einer Aufnahme, wohl aber von der tatsächlichen Vernehmung abweichen darf. Außerdem muss in Fällen, in denen es auf eine Aussage zentral ankommt, im Rahmen der Hauptverhandlung oft mühsam rekonstruiert werden, was tatsächlich in der polizeilichen Vernehmung gefragt und gesagt wurde; das ist ebenfalls sehr zeitaufwändig und teuer und ist zudem in vielen Fällen auch gar nicht mehr möglich.
Was finden Sie gerade in der Rechtspsychologie momentan spannend an Forschung?
In vielen rechtspsychologischen Bereichen ist in den letzten Jahren viel passiert. Beispielsweise hat es große Fortschritte bei der prognostischen Einschätzung der Gefährlichkeit von Straftätern gegeben. Im Bereich der Aussagepsychologie sind sehr viele Erkenntnisse zur Entstehung von falschen Geständnissen gesammelt worden. Dann gibt es spannende neue Entwicklungen: Kollegen aus Finnland und Italien sind beispielsweise dabei, computerbasierte Vernehmungstrainings zu entwickeln: Vernehmende befragen einen Avatar. In Abhängigkeit von der Befragungstechnik antwortet der Avatar umfangreich oder knapp, macht zutreffende oder falsche Angaben; z. B. antwortet er auf offene Fragen mit mehreren Details, gibt auf suggestive Fragen falsche Antworten etc. Das Vernehmungsergebnis kann am Ende mit dem vorab definierten „Erlebnis“ verglichen werden; Abweichungen im Sinne von fehlenden oder falschen Informationen sind immer auf eine suboptimale Befragungsstrategie oder eigene Befragungsfehler zurückzuführen, so dass man auf diese Weise ein sehr gutes Feedback erhält.
Was können Sie uns über den Umgang mit Sachverständigen und deren Gutachten aus anwaltlicher Sicht mit an die Hand geben?
Aus gutachterlicher Sicht wünscht man sich von Anwälten vor allem Sachlichkeit. Offene Fragen lassen sich dann klären. Außerdem können Sachverständige unter solchen Bedingungen auch am ehesten erkennen, wenn sie selbst einen Fehler gemacht haben, und sie sollten diesen dann auch korrigieren. Strategien, mit denen nicht die inhaltliche Auseinandersetzung gesucht, sondern die Diskreditierung oder Einschüchterung eines Sachverständigen bezweckt wird – meist weil man mit dem Ergebnis eines Gutachtens nicht einverstanden ist –, sehen wir als Sachverständige dagegen natürlich nicht gerne.
Erstellen Sie auch methodenkritische Zweitgutachten?
Ja, sofern ich Zeit zur Verfügung habe. Methodenkritische Stellungnahmen sind ein wichtiges Instrument, um die Qualität eines Gutachtens zu überprüfen und gelegentlich auch um die mangelnde Qualität eines Gutachtens zu belegen. Allerdings besteht eine große Nachfrage nach methodenkritischen Stellungnahmen und es scheint nicht immer leicht zu sein, jemanden zu finden, der dafür Zeit hat.
Frau Volbert, wie ist es um die Rechtspsychologie institutionell in Deutschland bestellt?
Die einzige Professur mit einer reinen Denomination für Rechtspsychologie an einer staatlichen Universität in Deutschland hatte Herr Prof. Steller am Institut für Forensische Psychiatrie an der Charité bis zum Jahr 2009 inne. Nach seiner Pensionierung wurde diese Professur leider gestrichen. Aktuell gibt es Kollegen, die Rechtspsychologie neben einem anderen Fach betreiben, z. B. in Bonn und in Braunschweig; an der Universität Mainz ist vor einiger Zeit eine Juniorprofessur für Forensische Psychologie eingerichtet worden. Anfang Oktober 2016 wurde eine Professur für Rechtspsychologie an der Universität Hildesheim ausgeschrieben. Ich selbst habe seit 2015 mit 50 % meiner Arbeitszeit eine Professur für Rechtspsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin inne. Die Rechtspsychologie ist universitär vertreten, aber leider nicht so gut verankert, wie es angesichts des Bedarfs an gut ausgebildeten Rechtspsychologen notwendig wäre. Diese Problematik ist auch auf politischer Ebene prinzipiell erkannt worden, meines Erachtens sind aber nicht ausreichende Schlüsse gezogen worden. So hatten die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbart, die Qualität von Gutachten, insbesondere im familiengerichtlichen Bereich, zu verbessern. Als Ergebnis liegt ein Regierungsentwurf zur Reform des Sachverständigenrechts im Zivilrecht vor. Außerdem wurde in einem bundesweiten interdisziplinären Konsensprozess Standards für die Begutachtung im familienrechtlichen Bereich entwickelt. Diese an sich sehr begrüßenswerten Initiativen stellen aber lediglich sicher, dass ein Mindestmaß an Qualität erfüllt ist und führen im optimalen Fall dazu, dass die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Praxis umgesetzt werden. Will man darüber hinaus die angemahnte Verbesserung der Qualität von Gutachten erzielen, ist dies nur durch die Förderung von Forschung zu erreichen, und das setzt auch die Bereitstellung von entsprechenden Mitteln voraus.
Frau Prof. Dr. Volbert, ich danke für das Gespräch.
Die Fragen stellte Thomas Röth, Fachanwalt für Straf-, Arbeits-, Miet- und Wohnungseigentumsrecht, Richter am Anwaltsgericht sowie Sprecher des AK Strafrecht beim BAV, Kanzlei Liebert & Röth, www.liebert-roeth.de
Weitere Informationen
Das PEACE-Modell (Planning and Preparation – Engage and Explain – Account – Closure – Evaluation) ist ein systematisch-informationssammelnder Vernehmungsansatz, der in Großbritannien allen Polizeibeamten vermittelt wird: hierzu das Buch von Milne/Bull: Psychologie der Vernehmung, Bern, 1. Aufl., 2003 (die beiden Verfasser haben das Modell entwickelt und stellen es in diesem Buch vor).
Das US-Amerikanische Vernehmungsmodell REID wäre hierzu das „Gegenmodell“: s. https://de.wikipedia.org/wiki/Reid-Methode
Literatur
Das derzeit neueste Buch auf Deutsch, welches einen Überblick über die Rechtspsychologie gibt: Bliesener/Lösel/Köhnken (Hrsg.): Lehrbuch der Rechtspsychologie, Verlag Hans Huber, 1. Aufl. 2014
Wer Standards braucht, um Gutachten einschätzen zu können, sollte Folgendes konsultieren:
Volbert/Dahle: Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren, 2010, Göttingen
Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Gutachten: http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/1/98/1-618-98.php3
Im Übrigen sei auf folgende Literatur verwiesen:
1. Guter, längerer Überblicksartikel aus einer Schweizer Juristenzeitung, AJP, 11/2011, S. 1115–1135: Wie können aussagepsychologische Erkenntnisse Richtern, Staatsanwälten und Anwälten helfen?
2. Giesela Friedrichsen: Im Zweifel gegen die Angeklagten, 1. Aufl. 2008, München (schildert den Fall Pascal, der sehr viel mit unprofessioneller Vernehmung, konfirmatorischem Schlussfolgern und Nichtanwendung aussagepsychologischem Wissens zu tun hat)
3. Artikel (mit kurzem Überblick) im Berliner Anwaltsblatt über eine Veranstaltung des AK Strafrecht am 19.04.2014 mit Prof. Steller: Wann sind (Zeugen-)Aussagen wahr?, BAB 2014, S. 150–153, s. a.
4. Handbuch der Rechtspsychologie, hrsg. von Renate Volbert und Max Steller, 1. Aufl. 2008, Göttingen, mit vielen Kapiteln zum Thema
5. William Stern: Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt, 1904 und weitere Auseinandersetzung im Anschluss (1905)
6. Hugo Münsterberg: On the witness stand, Essays on Psychology and Crime, 1908/1925, in: http://psychclassics.yorku.ca/Munster/Witness/
7. Elisabeth Loftus: Witness for the defence, 1991, New York (toller Werkstattbericht der berühmten amerikanischen Psychologin)
8. Elisabeth Loftus: Eyewitness Testimony, 1996, Cambridge (eher wissenschaftliches Buch mit vielen geschilderten Beispielen/Versuchen)
9. Artikel im Berliner Anwaltsblatt: „Nichts als die Wahrheit?“, Rezension des gleichnamigen Buches von Prof. Max Steller, mit vielen weiteren Nachweisen, BAB 2015, S. 453–455, s. a.
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