Effektive Strafverteidigung. Recht – Psychologie – Überzeugungsarbeit der Verteidigung
von Ulrich Sommer
Verlag Carl Heymanns, 4. Auflage 2020, 784 Seiten, Hardcover, 99 Euro, ISBN 978-3-452-29523-1
Der Untertitel deutet es bereits an und Prof. Sommer, seit Jahrzehnten als Verteidiger in Köln ansässig, führt zu seinem Anliegen in den Vorworten Folgendes aus: „Effektive Strafverteidigung versucht seit dem Erscheinen der 1. Auflage, die Gerichtswelt mit und jenseits der gängigen Prozesskommentierungen zu beleuchten – und im besten Fall zu durchdringen. Der Blickwinkel ist zwar der eines Verteidigers. Das Anliegen des Buches geht jedoch weiter.
Ein gerechtes Strafurteil und die Vermeidung von Fehlurteilen ist das überkommene Ziel des demokratischen Strafprozesses. Die gesetzlichen Mechanismen sind vielfältig, die Institutionalisierung von Verteidigung ist lediglich ein Teil des Konzeptes. Der fokussierte Blick des Verteidigers auf die desaströsen Folgen für einen betroffenen Bürger hilft allerdings enorm, Schwächen von System und Praxis in der Umsetzung ursprünglicher gesellschaftlicher Intentionen aufzudecken. Hierzu gehört – auch und primär – das Begreifen des Strafprozesses als Phänomen, das jenseits aller rechtlichen Normen erfahrbar und steuerbar ist.“ (Aus dem Vorwort zur 3. Auflage, 2016).
„Konsequente Strafverteidigung segelt selten am Wind des gesellschaftlichen Zeitgeistes. Dass Gerechtigkeit im Strafverfahren nur durch den Einsatz von Verteidigungsrechten erzielt werden kann, war und ist dem Zuschauer oft wenig verständlich; zu den Verständnislosen zählen immer häufiger auch Rechtspolitiker und Richter selbst. Rechte des als unschuldig geltenden Bürgers werden dem vermeintlichen Kampf gegen das Verbrechen und der Installation einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege geopfert. Verteidigung bedarf daher mehr denn je des selbstbewussten Auftretens des rechtsstaatlich Notwendigen.“ (Aus dem Vorwort zur 4. Auflage).
Diesen Zielen wird das Buch vollkommen gerecht. Es ist nach der Einleitung in 3 große Kapitel eingeteilt, Kapitel 1: Recht der Strafverteidigung (Seite 13 bis 134), Kapitel 2: Die Psychologie der Strafverteidigung (Seite 135 bis 288), und zuletzt Kapitel 3: Die Praxis der Strafverteidigung (Seite 289 bis 746). Ein Stichwortverzeichnis beschließt das Buch. Vor Kapitel 1 gibt es ein Literaturverzeichnis.
In der Einleitung weist Prof. Sommer schlaglichtartig auf die Realität des Strafprozesses und der Strafverteidigung hin, insbesondere durch jeweils geraffte Zusammenfassung u. a. des Rohrbach-, des Bauer-Rupp-, des Harry-Wörz- und eines Falles aus München, in dem eine Absprache getroffen wurde, an die sich jedoch nach Einlassung keiner der Richter mehr erinnern konnte.
Kapitel 1 beschäftigt sich mit der Rolle des Verteidigers, mit dem Mandatsverhältnis, mit der Beiordnung, dem Kontakt des Verteidigers zum Mandanten und Konflikten zwischen Verteidiger und Mandant. Insbesondere lehrreich sind die Ausführungen des Kollegen zu den Denkmodellen der Institution „Verteidigung“. Ohne eine Ableitung aus dem Prozesszweck des Strafverfahrens ist eine Konzeption der Verteidigung als Institution nicht möglich. Prof. Sommer führt hierzu bildhaft und pointiert in Kürze aus.
Ich habe selten Besseres zu diesem Thema so gedrängt gelesen.
Hier ein Beispiel (Seite 14, Rz. 3): „Die Formulierung einer Theorie der Verteidigung im Strafprozess scheitert zunächst an den vielfältigen Ansätzen, die einzelne Aufgaben der Verteidigung beschreiben. Ist Verteidigung in das System des Strafprozesses eingebettet und ist die Wahrheitssuche das primäre Ziel des Verfahrens, erscheint die Rolle des Verteidigers eher hinderlich und somit systemwidrig. Ist die Wahrheit ein Produkt dialektischer Auseinandersetzung, ist der einseitige Beitrag der Verteidigung zur Wahrheitssuche dagegen sinnvoll, weil konstitutiv.“
Zusammenfassend stellt er fest, dass die allgemeine Aufgabe der Strafverteidigung wohl dahin verstanden werden kann, unter den prozessualen Bedingungen der sogenannten Wahrheitssuche letztendlich systemkonform den Prozess als besonderes Element der Skepsis und Kontrolle mitzugestalten.
Anhand der Rolle werden dann auch die üblichen Probleme (Was darf Verteidigung? Wo überschreitet sie Grenzen?) in diesem Kapitel abgehandelt. Interessant ist auch sein Kapitel Konflikt zwischen Verteidiger und Mandant (Seite 129 ff).
Das 2. Kapitel dürfte vom Ansatz her das Kernkapitel sein. Dort geht es um die Psychologie der Strafverteidigung. Hier wird detailliert zur Aufgabe der Überzeugungsarbeit ausgeführt. Kollege Sommer hat hier unglaublich viel (rechts-)psychologische Forschung vorwiegend aus den USA eingearbeitet. So setzt er sich mit der Struktur richterlicher Entscheidungsfindung, dem Recht auf Irrationalität, dem Umgang der Verteidigung mit der Emotionalität des Urteils, dem Rollenverständnis des Richters und des Verteidigers, der Überzeugungsarbeit im gerichtlichen Umfeld, der Kommunikation im Strafprozess und der Einbeziehung der Medien auseinander.
Am Ende deutet er aber auch an, dass Kommunikationsregeln da unanwendbar sind, wo keine Kommunikation mehr mit dem Ziel einer gemeinsamen Lösung stattfinde, mit Hinweis auf den Mythos „Konfliktverteidigung“. Die guten Ausführungen des Kollegen zur Stellung der Verteidigung nach der StPO im demokratischen Rechtsstaat (Sand im Getriebe zu sein ist rechtsstaatliche Pflicht!) und die umfassenden Kenntnisse und Hinweise zur psychologisch grundierten Überzeugungsarbeit sind unglaublich wichtige Erkenntnishappen für das eigene Rollenbewusstsein und die Gestaltung der täglichen Arbeit.
Er stärkt einem den Rücken, indem er wieder auf die Intention des StPO-Gesetzgebers hinweist, der Sicherungen gegen Missbrauch des Strafverfahrens vor über 100 Jahren geschaffen hat, aber einiges nicht vorhersehen konnte, was Aufgabe für uns Strafjuristen heute ist (hierzu auch sehr gut seine gut 40-minütige Rede in Dresden vom 3. Dezember 2014: „Ich habe den Glauben an die Justiz verloren“ – YouTube).
Im 3. Kapitel setzt sich der Kollege mit der Praxis der Strafverteidigung auseinander. Dies geht von den Teilhaberrechten des Verteidigers im Ermittlungsverfahren über die Verteidigung in der Hauptverhandlung bis hin zur Verteidigung durch Rechtsmittel sowie am Ende der abgekürzten Hauptverhandlung/Verständigung. Nach Übersicht und Stichproben werden alle üblichen Anwaltsprobleme erwähnt und dazu ausgeführt.
Dies kann unter Umständen etwas kurz geschehen, jedoch mit Hinweisen auf weiterführende Literatur. Es handelt sich hier aber nicht um trockene Prosa, sondern sie ist immer konkret, anschaulich und pointiert geschrieben mit dem Ziel, den lesenden Kollegen Handreichungen für die konkrete Verteidigertätigkeit zu geben.
Fazit: Ein dicker Schinken, aber kurzweilig und sehr gut zu lesen. Insbesondere die Fokussierung auf Grundlagen und psychologische Erkenntnisse sowie der pragmatisch-instrumentelle Zugang zu dem, was im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung passieren kann, und das darüberhinausgehende Interesse am Strafverfahren als einem rechtsstaatlichen Mittel (mit der Gefahr der Fehlurteile) machen dieses Buch zu einem Solitär in der Verteidigerliteratur.
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